SÄURE
als wiche sie vor einem Schlag zurück.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Ramp.«
Sie nahm meine Hand und drückte sie leicht. Sie war groß - überragte ihre Tochter mindestens um zwanzig Zentimeter - und immer noch schlank wie ein Mannequin. Sie trug ein einfaches, knielanges Kleid, kaum Schmuck, kein Parfüm. Ihr Haar war mittelblond und fing an silbrig zu werden. Sie trug es sportlich kurz. Ihr ovales Gesicht war immer noch wohlgeformt. Dreiundvierzig Jahre alt, wie ich mich an einen alten Zeitungsartikel erinnerte, und genauso sah sie auch aus. Das Alter hatte ihre Schönheit sanfter gestimmt und doch irgendwie gesteigert.
Sie wandte sich ihrer Tochter zu und lächelte. Neigte den Kopf beinahe rituell und zeigte mir die linke Hälfte ihres Gesichts. Die Haut war straff gespannt, die Kinnlinie schärfer, als sie es hätte sein sollen, als hätte man die darunterliegende Muskelschicht herausgeschnitten und durch etwas Künstliches ersetzt. Ihr linkes Auge hing unmerklich herunter, und die Haut zwischen Nase und Wangenknochen überzog ein dichtes Netz fadenförmiger weißer Narben. Auf ihrem Hals unmittelbar unter dem Kinn waren drei rötliche Streifen, als hätte sie jemand heftig mit der flachen Hand geschlagen, so daß sich die Abdrücke der Finger abzeichneten. Sie war in der Tat eine verdorbene, geschändete Schönheit. Zu Melissa gewandt sagte sie: »Danke, Liebling« und schenkte ihr ein schiefes Lächeln.
Ich merkte, daß ich einen Augenblick lang Melissas Gegenwart vergessen hatte. Ich drehte mich um und lächelte ihr ebenfalls zu. Sie starrte uns an mit einem angestrengten, prüfenden Ausdruck in ihrem Gesicht. Plötzlich zog sie die Mundwinkel hoch und zwang sich, an dem Lächeln teilzunehmen.
Ihre Mutter sagte: »Komm her, mein Kind« und drückte sie an sich, indem sie Melissas Kopf und ihr langes Haar streichelte.
Melissa wich zurück und sah mich errötend an. Gina Ramp sagte: »Ich schaff’s schon, mein Kind, geh nur!«
»Viel Spaß«, sagte Melissa mit einer Stimme, die ihr fast versagte. Warf noch einen Blick zurück und ging hinaus. Sie ließ die Tür offen. Gina Ramp ging hin und schloß sie.
»Bitte machen Sie es sich bequem, Doktor«, sagte sie und drehte ihren Kopf wieder so, daß nur die gesunde Hälfte ihres Gesichts zu sehen war. Sie wies auf das Service. »Kaffee?«
»Nein, danke.« Ich setzte mich auf einen der Stühle. Sie kehrte zum Sofa zurück und setzte sich ebenfalls, den Rücken kerzengerade, die Beine an den Fußknöcheln über Kreuz, die Hände im Schoß - genau dieselbe Haltung, die Melissa gestern bei mir zu Haus gewählt hatte.
»Also«, sagte sie und lächelte wieder. Sie beugte sich vor, um eine der Tassen geradezurücken, und verbrachte mehr Zeit damit, als nötig war.
Ich begann: »Es ist gut, daß wir uns endlich kennenlernen, Mrs. Ramp.«
»Meinen Sie?«, das Gesicht zu einem schmerzverzerrten Lächeln verzogen.
Bevor ich antworten konnte, fuhr sie fort: »Ich bin keine schreckliche Person, Dr. Delaware.«
»Natürlich nicht«, sagte ich, mit etwas zuviel Nachdruck. Sie zuckte zusammen und sah mich lange an. Etwas an ihr und an diesem Haus brachte mich aus dem Konzept. Ich lehnte mich zurück und schwieg. Schließlich sagte ich: »Ich bin nicht hier, um ein Urteil über Sie zu fällen. Es geht darum, ob Melissa zum College fortgeht. Das ist alles.«
Sie spannte die Lippen an und schüttelte den Kopf. »Sie haben ihr so sehr geholfen, trotz meiner Person.«
»Nein«, sagte ich, »nicht trotz Ihrer Person, sondern mit Ihnen.«
Sie schloß die Augen, sog Luft ein und umklammerte mit den Händen ihre Knie. »Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Delaware. Ich habe einen langen Weg hinter mir, ich kann harte Wahrheiten einstecken.«
»Die Wahrheit ist, Mrs. Ramp, daß Melissa sich zu einer großartigen jungen Frau entwickelt hat, und das vor allem, weil sie zu Haus viel Liebe und Unterstützung bekommen hat.«
Sie schlug die Augen auf und schüttelte langsam den Kopf. »Sie sind sehr freundlich, aber die Wahrheit ist, daß ich, obwohl ich wußte, daß ich in bezug auf sie versagte, mich nicht aus meiner - aus meiner Depression befreien konnte. Es klingt so nach Willensschwäche, aber…«
»Ich weiß«, sagte ich, »Angst kann einen Menschen ebenso verkrüppeln wie Kinderlähmung.«
»Angst«, wiederholte sie. »Was für ein milder Ausdruck. Es ist vielmehr wie Sterben. Immer wieder. Wie ein Leben in der Todeszelle, niemals weiß man…« Sie drehte
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