SÄURE
zusammengebracht hat.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Und es stimmt, sie hat mich zu der Therapie gebracht, hat an mir herumgekrittelt, bis ich so weit war, Gott segne sie dafür! Denn die Therapie hat mir geholfen, ein Fenster in meine Zelle zu brechen. Manchmal komme ich mir wie eine Närrin vor, daß ich es nicht schon früher getan habe. All diese vielen Jahre…«, sie rutschte plötzlich herum und zeigte mir ihr ganzes Gesicht, stellte es zur Schau. Das Thema ihrer Wiederheirat überging sie, und ich fragte sie auch nicht danach. Plötzlich stand sie auf, ballte die Faust, hielt sie vor ihr Gesicht und starrte sie an. »Ich muß sie irgendwie überzeugen.« Die vernarbte Gesichtshälfte wurde weiß vor Anstrengung, die Streifen an ihrem Hals ebenso. »Ich bin doch ihre Mutter, um Gottes willen!«
Schweigen. Zu hören war nur das ferne Summen eines Staubsaugers.
Ich sagte: »Sie klingen jetzt ziemlich überzeugend. Rufen Sie sie doch her und sagen Sie ihr das.«
Sie überlegte, ließ die Faust sinken, öffnete aber ihre Hand nicht. »Ja«, sagte sie, »gut, ich mach’ es, jetzt gleich.« Sie entschuldigte sich und ging.
Ich hörte ihre gedämpften Schritte und ihre Stimme, stand auf und sah nach. Sie saß auf der Kante eines von einem Baldachin gekrönten Betts, in einem riesigen weißen Schlafzimmer mit einem Deckenfresko und telefonierte.
Sie nickte, sagte etwas und legte den Hörer auf. Ich kehrte zu meinem Platz zurück. Sie kam einen Augenblick später heraus: »Sie kommt. Macht es Ihnen etwas aus dabeizusein?«
»Wenn Melissa nichts dagegen hat.«
Sie lächelte. »Das wird sie nicht. Sie mag Sie sehr gern, sie sieht in Ihnen einen Verbündeten.«
Ich sagte: »Ich bin ihr Verbündeter.«
»Natürlich«, sagte sie, »wir brauchen alle Verbündete, nicht wahr?«
Ein paar Minuten später wurden Schritte im Korridor hörbar. Gina stand auf, traf Melissa an der Tür, nahm sie bei der Hand und zog sie herein. Sie legte Melissa beide Hände auf die Schultern und sah feierlich auf sie herab, als bereite sie sich darauf vor, ihr den Segen zu erteilen.
»Ich bin deine Mutter, Melissa Anne. Ich habe Fehler gemacht, und ich bin schwach und als Mutter unzulänglich gewesen, aber das ändert nicht die Tatsache, daß ich deine Mutter bin und daß du mein Kind bist.«
Melissa sah sie fragend an, dann drehte sie den Kopf in meine Richtung.
Ich warf ihr ein, wie ich hoffte, aufmunterndes Lächeln zu und sah zu ihrer Mutter. Melissa folgte meinem Blick.
Gina fuhr fort: »Ich weiß, daß meine Schwäche dich sehr belastet hat, mein Liebes. Aber das alles wird sich ändern. Es wird anders werden.«
Bei dem Wort anders erstarrte Melissa.
Gina nahm es wahr, zog sie an sich und schloß sie in die Arme. Melissa sträubte sich nicht dagegen, aber sie gab auch nicht nach. »Ich möchte, daß wir einander immer nahe bleiben, Liebes, aber ich möchte auch, daß jeder von uns sein Leben lebt.«
»Das tun wir, Mutter.«
»Nein, das tun wir nicht, nicht wirklich. Wir lieben uns und wir sorgen uns um einander. Du bist die beste Tochter, die sich eine Mutter je erhoffen kann, aber unsere Beziehung ist zu verwickelt. Wir müssen sie entwirren. Die Knoten müssen wir auflösen.«
Melissa wich etwas zurück und starrte zu ihr auf. »Was willst du damit sagen?«
»Was ich damit sagen will, ist, daß es für dich eine großartige Gelegenheit ist, nach Harvard an die Ostküste zu gehen. Das ist deine Chance. Du hast sie dir verdient. Ich bin so stolz auf dich - deine ganze Zukunft wartet auf dich, und du hast den Verstand und die Begabung, etwas aus dir zu machen. Also nutze die Gelegenheit, ich bestehe darauf, daß du sie nutzt!«
Melissa wand sich los. »Du bestehst darauf?«
»Nein, ich will dich nicht… Was ich sagen will, Liebes, das ist…«
»Was ist, wenn ich diese Gelegenheit nicht ergreifen will?« Melissas Ton war sanft aber kämpferisch, eine Gegnerin, die ihren Angriff vorbereitet.
Gina sagte: »Ich bin einfach der Meinung, daß du gehen solltest, Melissa Anne.« Ihre Stimme klang nicht mehr ganz so überzeugt.
Melissa lächelte. »Das ist in Ordnung, Mutter, aber was ist mit meiner eigenen Meinung?«
Gina zog sie noch einmal näher an sich heran und drückte sie an sich. Melissas Gesicht wirkte teilnahmslos.
»Deine Meinung ist die allerwichtigste, Baby, aber ich möchte, daß du dir klar darüber wirst, welches deine wirkliche Meinung ist, daß deine Entscheidung nicht durch deine Sorgen meinetwegen
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