SÄURE
bösartig sein, ein Haus ohne Türen. Glauben Sie mir, ich weiß es.«
Diese Feststellung ließ mich zusammenzucken. Ich dachte, sie hätte es nicht bemerkt, aber sie fragte: »Was ist?«
»Der Ausdruck, den Sie gerade gebraucht haben - ein Haus ohne Türen! Damals, als ich Melissa behandelte, hat sie immer wieder Häuser ohne Türen gemalt.«
»Oh«, entfuhr es ihr, und sie fixierte die Tasche, in der der Inhalator steckte.
»Haben Sie je den Ausdruck in Melissas Gegenwart verwendet?«
»Ich glaube nicht, - es wäre schrecklich, wenn ich es getan hätte, nicht wahr, ihr dieses Bild in den Kopf zu setzen?«
»Nicht unbedingt«, sagte ich und kam mir wie ein Heuchler vor, »so hatte sie ein konkretes Bild, mit dem sie umgehen konnte. Als sich ihr Zustand verbesserte, fing sie an, Häuser mit Türen zu malen. Ich bezweifle, daß dieses Haus für Melissa jemals das sein wird, was es für Sie war, Mrs. Ramp.«
»Wie können Sie dessen so sicher sein?«
»Ich kann mir in keiner Beziehung igendwie sicher sein«, sagte ich leise. »Ich glaube nur einfach nicht, daß Ihr Gefängnis auch das von Melissa ist.«
Trotz meines sanften Tonfalls verletzte sie das. »Ja, natürlich haben Sie recht. Sie ist sie selbst, ich sollte in ihr nicht mein Abbild sehen.« Sie machte eine kurze Pause. »Also glauben Sie, daß es für sie richtig sein wird, hier zu leben?«
»Vorübergehend.«
»Wie lange meinen Sie?«
»Lange genug, daß sie sich mit dem Gedanken anfreunden kann wegzugehen. Soweit ich es in Erinnerung habe, konnte sie sich schon vor neun Jahren recht gut einschätzen.«
Sie sagte nichts, starrte auf die Standuhr.
Ich sagte: »Vielleicht haben die beiden sich kurzerhand zu einer Spritztour entschlossen.«
»Noel hat seine Arbeit noch nicht beendet«, sagte sie, als ob damit etwas entschieden wäre, und erhob sich. Sie starrte auf den Fußboden, während sie langsam im Zimmer umherging-Ich betrachtete die Gemälde genauer: Flamen, Holländer und Italiener der Renaissancezeit, Bilder, bei denen ich das Gefühl hatte, daß ich sie kennen müßte. Aber ihre Farben erschienen kräftiger und frischer, als ich es von den Museen her kannte. Ich erinnerte mich, was Jacob Dutchy über Arthur Dickinsons Leidenschaft für das Restaurieren gesagt hatte, und begriff, wieviel von der Aura des Toten im Hause verblieben war. - Es war ein Mausoleum.
Ich hörte sie sagen: »Ich fühle mich schrecklich. Ich wollte Ihnen zu Anfang sofort danken, nachdem wir einander kennengelernt haben, für all das, was Sie vor Jahren getan haben und immer noch tun. Aber wir haben über alles mögliche gesprochen, und nun ist es mir entfallen. Bitte verzeihen Sie mir, und nehmen Sie meinen schändlich verspäteten Dank entgegen!«
Ich sagte: »Akzeptiert.«
Sie sah wieder auf die Standuhr. »Ich hoffe, die beiden kommen bald wieder.«
Sie kamen nicht. Eine halbe Stunde verging - dreißig lange Minuten, angefüllt mit Small talk und einem Schnellkurs in flämischer Kunst, den mir meine Gastgeberin mit roboterhaftem Enthusiasmus darbot. Durch alles hindurch hörte ich Dutchys Stimme und fragte mich, wie die Stimme des Mannes, der es Dutchy beigebracht hatte, geklungen haben mochte.
Als sie nichts mehr zu erzählen wußte, stand sie auf und meinte: »Vielleicht sind sie tatsächlich irgendwo hingefahren.
Es ist sinnlos, daß Sie warten, es tut mir so leid, daß ich Ihre Zeit vergeude.«
Ich raffte mich aus den Polstern und Kissen auf, die mich wie Treibsand unter sich begraben wollten, und folgte ihr zum Vestibül.
Sie öffnete die Haustür und fragte: »Wenn sie zurückkommt, soll ich dann sofort mit ihr reden?«
»Nein, ich würde es nicht forcieren. Orientieren Sie sich an Melissas Verhalten. Wenn sie so weit ist, daß sie reden will, dann werden Sie es schon merken. Falls Sie und Melissa möchten, daß ich das nächstemal hier bin, wenn Sie miteinander sprechen, lassen Sie es mich wissen. Aber sie ist möglicherweise wütend auf mich, hat das Gefühl, ich hätte sie verraten.«
»Es tut mir leid«, sagte sie, »ich wollte Melissas Beziehung zu Ihnen nicht verderben.«
»Das läßt sich reparieren«, sagte ich, »wichtig ist, was zwischen Ihnen beiden vorgeht.«
Sie nickte und strich über ihre Tasche. Dann kam sie näher und berührte mein Gesicht so, wie sie das Gesicht ihres Mannes berührt hatte. Dabei bot sie mir den Anblick ihrer Narben aus nächster Nähe und küßte mich auf die Wange.
Wieder auf der Autobahn, wieder auf der
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