SÄURE
auszuziehen.«
»Nein, sie hat nichts mitgenommen, ich habe in ihrem Zimmer nachgesehen. Alle Koffer sind da. Ich kenne alles in ihrem Schrank, und sie hat keines ihrer Kleider mitgenommen!«
»Ich sage nicht, daß sie eine Reise geplant hat, Melissa. Ich spreche von einer spontanen, impulsiven Reaktion.«
»Nein«, nochmals ein heftiges Kopfschütteln, »sie war vorsichtig, sie würde mir das nicht antun.«
»Sie sind ihre Hauptsorge, aber vielleicht hat die neuentdeckte Freiheit sie irgendwie berauscht. Sie bestand heute darauf, selbst zu fahren, wollte das Gefühl genießen, daß sie den Wagen in ihrer Gewalt hatte. Vielleicht war das Gefühl so wunderbar, als sie erst einmal auf der freien, offenen Straße war und ihren Lieblingswagen fuhr, daß sie nicht mehr angehalten hat. Das hat nichts mit ihrer Liebe zu Ihnen zu tun. Aber manchmal ändern sich die Dinge schnell, wenn erst mal ein Anfang gemacht ist.«
Sie biß sich auf die Lippe, kämpfte gegen die Tränen an und sagte mit einer sehr leisen Stimme: »Sie glauben wirklich, daß es ihr gut geht?«
»Ich glaube, Sie müssen alles nur Mögliche tun, um sie zu finden. Aber ich würde nicht gleich das Schlimmste annehmen.«
Sie holte mehrmals Luft, boxte sich in die Seiten, knetete die Hände. »Raus auf die Straße und dann immer weitergefahren, das wäre ja was.« Sie sagte es mit großen Augen, fasziniert von der Möglichkeit. »Nein, ich kann es mir einfach nicht vorstellen, das würde sie mir nie antun.«
»Sie liebt Sie sehr, Melissa, aber sie…«
»Ja, sie liebt mich«, sagte sie und fing an zu weinen. »Ja, sie liebt mich, und ich will sie wiederhaben.«
Schritte erklangen auf dem Marmorfußboden zu unserer Linken. Wir drehten uns um.
Ramp stand da, den Blazer über dem Arm. Melissa versuchte sich hastig mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
Er sagte: »Tut mir leid, Melissa. Du hattest recht, es ist sinnlos, jemandem Vorwürfe zu machen. Tut mir auch leid, daß ich Sie gekränkt habe, Doktor.«
Ich antwortete: »Ich habe mich nicht gekränkt gefühlt.«
Er kam herüber und schüttelte mir die Hand.
Melissa tappte mit dem Fuß auf den Boden, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
Ramp sagte: »Melissa, ich kenne deine Gefüh-, die Sache ist die, wir stecken beide drin. Wir müssen alle zusammenhalten, damit wir sie zurückbekommen.«
Melissa sprach, ohne ihn anzusehen: »Was willst du von mir?«
Er sah sie besorgt an. Es schien echt zu sein - väterlich. Sie ignorierte es. Er sagte: »Ich weiß, daß Chickering ein Idiot ist. Ich habe nicht mehr Vertrauen zu ihm als du. Also laß uns zusammen beratschlagen, vielleicht fällt uns irgend etwas ein, um Gottes willen.« Er streckte die Hände aus, hielt sie flehend, mit echtem Schmerz in seinem Gesicht - außer er war besser als Lawrence Olivier.
Sie sagte: »Wenn du meinst«, es klang unsäglich gelangweilt.
Er ließ nicht locker: »Schau mal, es ist sinnlos, daß wir hier herumstehen, laßt uns reingehen, in der Nähe des Telefons bleiben. Kann ich Ihnen etwas zu trinken besorgen, Doktor?«
»Kaffee, wenn Sie haben.«
»Na klar.«
Wir folgten ihm durchs Haus und setzten uns in den nach hinten gelegenen Raum mit den Terrassentüren und den wunderschönen, bemalten Balken. Ramp hob einen Telefonhörer auf, drückte zwei Ziffern und sagte: »Kanne Kaffee ins hintere Arbeitszimmer bitte, drei Tassen.« Zu mir gewandt: »Machen Sie es sich bequem, Doktor.«
Ich ließ mich in einen alten Ledersessel nieder, der die Farbe eines vielbenutzten Sattels aufwies. Melissa hockte sich auf die Armlehne eines Sessels in meiner Nähe und zupfte an sich herum.
Ramp blieb stehen. Einen Augenblick darauf kam Madeleine mit dem Kaffee herein und setzte das Tablett, ohne ein Wort zu sagen, hin. Ramp dankte ihr, entließ sie und goß drei Tassen voll. Schwarz für sich selbst und für mich, mit Sahne und Zucker für Melissa. Sie nahm ihre Tasse, trank aber nicht.
Ramp und ich nippten.
Niemand sprach. Schließlich kam es von Ramp: »Ich rufe noch einmal in Malibu an!« Er nahm den Hörer auf, drückte eine Nummer und hielt ihn eine Zeitlang ans Ohr, bevor er ihn wieder bedächtig in die Gabel legte, als ob er sein Schicksal enthielte.
Ich fragte: »Was ist mit Malibu?«
»Ginas Strandhaus, Broad Beach, nicht, daß sie da hingehen würde, aber es ist das einzige, was mir einfällt.«
Melissa sagte: »Das ist lächerlich, sie haßt das Wasser.«
Ramp wählte wieder eine Nummer,
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