SÄURE
Melissa ist nach dem Gesetz volljährig.«
Ramp sagte: »Was Sie getan haben, war legal, hm? Das werden wir sehen.«
Eine Stimme vom oberen Treppenabsatz sagte: »Laß ihn in Ruhe, Don.«
Melissa stand oben, sie hatte ein Männerhemd und Jeans an, ihr Haar war hinten nachlässig zusammengebunden. In dem Hemd sah sie geradezu wie unterernährt aus. Sie kam schnell die Treppe herunter und schwenkte dabei die Arme wie ein Jogger.
Ramp setzte an: »Melissa…«
Sie blieb vor ihm stehen, das Kinn hochgereckt, die Fäuste geballt. »Laß ihn in Ruhe, Don, er hat nichts getan. Ich habe von ihm verlangt, daß er es für sich behält, er mußte es tun, also hör auf!«
Ramp richtete sich auf: »Wir haben das alles schon mal gehör…«
Melissa schrie: »Halt den Mund, verdammt! Ich will diesen Schwachsinn nicht mehr hören!«
Jetzt wurde Ramp blaß, seine Hände zitterten.
Chickering sagte: »Ich glaube, Sie beruhigen sich am besten, junge Dame.«
Melissa wandte sich ihm zu und schüttelte die Faust: »Wagen Sie es nicht, mir zu sagen, was ich tun soll. Sie sollten draußen sein und Ihre Arbeit tun und dafür sorgen, daß Ihre blöden Mietbullen meine Mutter finden, anstatt hier mit ihm herumzustehen und unseren Scotch zu saufen.«
Chickerings Gesicht verkrampfte sich vor Zorn, verzerrte sich dann zu einem kränklichen Lächeln.
»Melissa!« sagte Ramp.
»Melissa!« Sie ahmte seinen empörten Tonfall nach. »Ich habe keine Zeit für diesen Schwachsinn! Meine Mutter ist da draußen, und wir müssen sie finden. Also hören wir auf, nach Sündenböcken zu suchen, und überlegen wir uns ganz einfach, wie wir sie finden!«
»Genau das tun wir, junge Dame«, sagte Chickering.
»Wie? Mit Streifen in der Nachbarschaft? Was soll das? Sie ist nicht mehr in San Labrador. Wenn sie es wäre, hätte man sie schon lange entdeckt.«
Es dauerte einen Augenblick, bevor Chickering antwortete: »Wir tun, was wir können.« Es klang wenig überzeugend. Er wußte es. Auch der Gesichtsausdruck von Ramp und Melissa zeigte es. Er knöpfte sein Jackett zu - es spannte über dem Bauch - und wandte sich an Ramp: »Ich bleibe, solange Sie mich brauchen. Aber in Ihrem eigenen Interesse sollte ich draußen auf der Straße sein.«
»Selbstverständlich«, sagte Ramp mutlos.
»Kopf hoch, Don, wir finden sie. Machen Sie sich keine Sorgen!«
Ramp zuckte die Achseln und verschwand im Haus.
Chickering sagte: »Nett, Sie kennengelernt zu haben, Doktor.« Sein Zeigefinger zeigte auf mich wie ein Revolver. Zu Melissa: »Junge Dame.«
Er fand allein den Weg hinaus. Als die Tür sich schloß, schimpfte Melissa: »Idiot! Jeder weiß, daß er ein Idiot ist - die Kinder nennen ihn alle hinter seinem Rücken Prickering. Es gibt im Grunde keine Verbrechen in San Labrador, also hat er nichts zu tun. Aber es liegt nicht an ihm - Außenseiter fallen einfach auf. Und die Polizei jagt alle, die nicht reich aussehen.« Sie sprach schnell, aber fließend, ein bißchen schrill.
Ich sagte: »Typisches Kleinstadtmilieu.«
Sie bejahte: »Genau das ist es: Hicksville. Hier passiert nie etwas.« Sie senkte den Kopf und schüttelte ihn. »Nur, daß es jetzt doch passiert ist. Es ist meine Schuld, Dr. Delaware, ich hätte ihr von ihm erzählen sollen.«
»Melissa, es gibt keinerlei Hinweise, daß McCloskey etwas hiermit zu tun hat. Denken Sie an das, was Sie gerade gesagt haben, daß die Polizei Außenseiter jagt. Die Chance, daß ihr jemand aufgelauert haben könnte, ohne gesehen zu werden, ist gleich null.«
»Aufgelauert«, sie fröstelte, atmete aus, »ich hoffe, Sie haben recht. Wo ist sie dann aber? Was ist mit ihr geschehen?«
Ich wählte meine Worte mit Bedacht: »Es ist möglich, Melissa, daß ihr nichts geschehen ist, daß sie es aus eigenem Entschluß getan hat.«
»Sie wollen sagen, sie ist weggelaufen?«
»Ich sage, es kann sein, daß sie losgefahren ist und beschlossen hat weiterzufahren.«
»Unmöglich!« Sie schüttelte heftig den Kopf, »unmöglich!«
»Melissa, als Sie mit Ihrer Mutter sprachen, hatte ich den Eindruck, daß sie sich wirklich nach etwas Freiheit sehnte.«
Sie schüttelte den Kopf, wandte mir den Rücken zu und sah zu der grünen Treppe hin.
Ich fuhr fort: »Sie hat mir erzählt, sie sei bereit, Riesenschritte zu machen. Sie stände vor einer offenen Tür und müsse hindurchgehen - dieses Haus ersticke sie. Ich hatte ganz den Eindruck, daß sie hinaus wollte und sich sogar überlegte, nach Ihrem Fortgang
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