SÄURE
Personen.«
»Konditionierte Abhängigkeit?«
»Genau, in vielfacher Hinsicht ist sie wie ein Kind - das sind alle Agoraphobiker: Abhängig, ritualistisch, routinehaft bis zu dem Punkt, daß sie sich an primitive Gewohnheiten klammern. Während die Phobie besteht, verstärkt sie sich, und ihr Verhaltensrepertoire verringert sich drastisch. Am Ende sind sie von Tatenlosigkeit gelähmt, eine Art psychologische Tiefgefrorenheit. Agoraphobiker sind psychologische Reaktionäre, Dr. Delaware. Sie bewegen sich nur dann, wenn sie scharf angetrieben werden. Jeden Schritt gehen sie mit großem Zittern. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, daß sie munter wegläuft auf der Suche nach irgendeinem vage definierten Xanadu.«
»Trotz ihres Fortschritts nicht?«
»Ihr Fortschritt ist erfreulich, aber sie hat noch einen weiten Weg vor sich. Meine Frau und ich, wir haben jeder umfangreiche Pläne für sie ausgearbeitet.« Das klang mehr nach einem Wettkampf als nach Zusammenarbeit. Ich sagte nichts dazu. Er wickelte noch einen Kaugummistreifen aus und steckte ihn sich zwischen die Lippen. »Die Behandlung ist gut durchdacht. Wir bieten ihr den vollen Gegenwert für unsere entsetzlichen Honorare. Höchstwahrscheinlich wird Mrs. Ramp nach Hause zurückkehren und diese Chance nutzen.«
»Also machen Sie sich ihretwegen keine Sorgen?«
Er kaute angestrengt, verursachte quietschende Geräusche. »Ich mache mir Gedanken, Dr. Delaware, Sorgen sind unproduktiv, ›angsterzeugend‹. Ich bringe meinen Phobikern bei, sie sich vom Leibe zu halten, und versuche mich selbst auch an das zu halten, was ich predige.«
15
Er brachte mich zur Tür, während er weiter über wissenschaftliche Fragen redete. Als ich den Weg über den Rasen zurückging, sah ich, daß der Saab nun in die Einfahrt hineingefahren war. Dahinter stand ein grauer Range Rover. Die Windschutzscheibe war bis auf die durch den Scheibenwischer gesäuberten Bögen von Staub bedeckt.
Ich stellte mir Gabney hinter dem Steuer vor, wie er sich durch das Mezquitedickicht wühlte, und ich fuhr weg mit dem Gedanken, was für ein sonderbares Paar die beiden doch waren. Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine Eiskönigin, kampflustig und bereit, für ihre Rechte zu streiten. Ich konnte mir vorstellen, wie sich bei ihr und Melissa die Nackenhaare gesträubt hatten. Aber das Eis war so dünn, daß es bei näherem Hinsehen wegschmolz. Darunter war ihre Verletzbarkeit, genau wie bei Gina. War dies die Grundlage für eine außerordentlich starke Einfühlung gewesen? Wer von den beiden hatte wen mit kleinen grauen Zimmern und den Bildern von Mary Cassatt vertraut gemacht? Was auch immer der Grund sein mochte, sie schien besorgt. Ginas Verschwinden hatte sie erschüttert.
Im Gegensatz dazu schien ihr Mann sich von der ganzen Affaire distanzieren zu wollen. Er zuckte die Achseln, nannte Ginas Pathologie eine Routine, reduzierte den Schmerz zum Jargon. Trotz dieser Gleichgültigkeit war er aber den ganzen Weg von Santa Ynez nach L.A. geeilt und hatte eine Fahrt von zwei Stunden auf sich genommen. Vielleicht machte er sich also doch genauso große Sorgen wie seine Frau und wußte sie nur besser zu verbergen.
Der alte Gegensatz des Männlich-Weiblichen: Männer bewahren Haltung, Frauen bluten. Ich mußte an das denken, was er mir über den Verlust seines Sohnes gesagt hatte. Wie er es erzählt hatte; der Gleichmut erweckte den Eindruck, daß er es zum tausendsten Mal wiederholte. Wieder und wieder erzählen - war das seine Art der Vergangenheitsbewältigung? Oder hatte er die Kunst, die Vergangenheit hinter sich zu bringen, wirklich gemeistert? Vielleicht würde ich ihn eines Tages anrufen und um Unterricht bitten.
Es war zehn vor zehn, als ich zum Sussex Knoll zurückkam. Ein einziger Streifenwagen kreuzte noch durch die Straßen. Anscheinend hatte ich die Überprüfung bestanden, denn niemand hinderte mich mehr daran, vor dem Tor mit der Zehn zu halten.
Über die Sprechanlage klang Don Ramps Stimme trocken und müde. »Nein, nichts«, sagte er, »kommen Sie herauf.«
Das Tor sprang gähnend auf, ich fegte hindurch. Draußen hatte man weitere Lampen eingeschaltet, die ein falsches, strahlend helles, kaltes Tageslicht spendeten. Keine anderen Wagen standen vor dem Haus. Die beiden Türflügel standen offen, Ramp stand in Hemdsärmeln dazwischen.
»Nichts, gar nichts«, sagte er, nachdem ich die Stufen hinaufgestiegen war, »was haben die Gabneys gesagt?«
»Nichts von Bedeutung.« Ich
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