Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
den äthiopischen Hochebenen und wurde im Laufe der Jahre zum wichtigsten Exportartikel des Landes. Nahezu jeder Mann kaut mehrmals täglich stundenlang auf den trockenen Kathblättern herum, die nicht nur Müdigkeit, sondern vor allem auch Hunger vertreiben. Obwohl interessanterweise Frauen das Geschäft mit den Zweigen kontrollieren, ist es ausschließlich Männern vorbehalten, das sogenannte »Kokain Afrikas« zu konsumieren.
An vielen von diesen Grüppchen, die es sich kauend im Schatten der wenigen Bäume oder in dunklen Straßenecken bequem gemacht hatten, fuhren wir nun vorbei. Die leeren Blicke der Herumsitzenden stimmten mich traurig, denn sie erinnerten mich an die Umstände, die diese Männer in die Sucht trieben. Kath ließ die Menschen ihre Armut, ihre Angst, ihre Sorgen und Nöte vergessen. Kath war für die meisten hier der letzte Ausweg aus ihrem Elend.
»Stimmt es, dass auch schon viele Kinder Kath konsumieren?«, fragte Linda vom Rücksitz aus.
»Ja, leider«, antwortete Fardouza. »In Somalia verteilen die Warlords Kath an Kindersoldaten, damit sie die Angst davor verlieren, auf andere zu schießen und sie brutal zu töten.«
Ich schwieg. Wer oder was würde jemals diesen Kontinent aus seiner schier hoffnungslosen Situation retten? Ich wusste auf diese Frage keine Antwort.
»Hier muss es sein«, sagte Fardouza einen Moment später und hielt in einer Nebenstraße am Ende der Stadt.
Endlich waren wir bei dem Haus angekommen, in dem Safas Freundin wohnte. In der Mitte einer langen, hohen und von Stacheldraht gesäumten Mauer befand sich ein rotes Tor.
Fardouza stieg aus und klopfte. »Hallo!«, rief sie. »Ich bin Fardouza. Ich bin hier, um Safa abzuholen!«
Während ihr ein junger Mann Eintritt gewährte, blieb ich zusammen mit Joanna und Linda im Wagen sitzen. In den schillerndsten Farben malte ich mir aus, welche Standpauke ich Safa gleich halten würde, weil sie nicht vor der Schule gewartet und uns so große Sorgen bereitet hatte. Doch die neugierigen Blicke der Kinder, die unser Auto binnen weniger Minuten umringten, rissen mich aus meinen Gedanken. Sie waren herbeigeeilt, um herauszufinden, wer die Menschen in der alten, staubigen Klapperkiste waren. Ich hatte ganz vergessen, wie neugierig die Menschen in Afrika sein konnten, wie nah sie Fremden kamen, wie gern sie andere anfassten und ansahen, als wären sie Außerirdische. Ich beschloss, die Menschenmenge ein wenig zu necken.
»He«, rief ich auf Somali, während ich ausstieg, »habt ihr denn nichts Besseres zu tun, als uns anzustarren?«
Einige Kinder zogen verschreckt von dannen. Die meisten jedoch blieben stehen und fragten wissbegierig nach.
»Bist du auch Somali?«, wollte ein kleiner Junge wissen.
»Na klar, hört man das denn nicht?«, stellte ich die Gegenfrage in meiner Muttersprache.
»Wieso bist du dann nicht verschleiert? Wo ist dein Hijab?«, fragte der Kleine keck weiter.
»Mein Hijab?«, antwortete ich stolz. »Wozu sollte ich so etwas tragen? Es ist hier auch so heiß genug.«
Inzwischen hatten sich auch einige erwachsene Frauen und Männer zu der Menschenmenge gesellt, die mich umzingelte. Verwundert gafften sie mich an. Zugegeben, es machte mir Spaß, sie mit meinen selbstbewussten Äußerungen ein bisschen zu ärgern. Ich wusste, vor allem die Männer störten sich daran, dass ich unverschleiert war und mich damit gegen ihre Unterdrückung auflehnte.
Während ich so in der Menge stand, spürte ich plötzlich, dass sich eines der Kinder an mich schmiegte. Eine kleine Hand griff nach der meinen und drückte sie zärtlich. Ich sah nach unten. Zu meinem Erstaunen war es jedoch nicht eines der neugierigen Nachbarskinder. Es war Safa.
Mit ihren großen, dunklen Augen blickte sie an mir hoch und lächelte mich liebevoll an. »Hallo, Waris«, sagte sie leise und drückte den Kopf gegen meinen Arm.
»Los, Kinder, geht wieder spielen«, forderte ich die anderen auf.
Ich wollte mit Safa allein sein. Dann kniete ich mich zu der Kleinen in den Sand und umarmte sie innig. Endlich war ich bei ihr angekommen. Endlich konnte ich sie persönlich nach ihrem Wohlergehen fragen – und sie mit meinem Leben beschützen, sofern es notwendig wäre.
Die Moralpredigt, die ich vorhin im Auto vorbereitet hatte, war von jetzt auf gleich vergessen. Ich blickte in ihre mandelförmigen braunen Augen. Safa übte immer noch die gleiche Faszination auf mich aus wie damals, als Fardouza sie mir zum ersten Mal vorgestellt und mich nach
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