Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
Idriss meldete sich Safa zu Wort. »Die anderen Kinder in Balbala haben zu mir gesagt, dass mich der Teufel holt, wenn ich nicht beschnitten bin.«
Inab pflichtete ihr bei. »Ja, ich habe auch schon oft gehört, dass unbeschnittene Frauen durchdrehen und dauernd Sex wollen. Angeblich haben sie keine Kontrolle mehr über ihren Körper.«
Sophie hörte aufmerksam zu, auch wenn sie die Schauergeschichten, die den Kindern erzählt wurden, bereits kannte. All das diente dazu, die Grausamkeiten, die man ihnen tagtäglich antat, zu rechtfertigen.
Damit die Emotionen nicht weiter hochkochten, blätterte sie die erste Seite auf dem Flipchart um und präsentierte ihren drei Zuhörern die erschütternden Zahlen, die sie vorab darauf notiert hatte.
»Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind einhundertfünfzig Millionen Frauen weltweit von FGM betroffen. Mindestens.« Sie deutete mit einem Stift auf die Zahl mit den vielen Nullen. »Jährlich werden etwa drei Millionen weitere Mädchen Opfer der Verstümmelung. Das bedeutet, pro Tag werden achttausend Mädchen genitalverstümmelt.« Sie hielt kurz inne, um das Gesagte wirken zu lassen.
»Achttausend? Jeden Tag?«, wiederholte Inab entsetzt.
»Ist das viel?«, fragte Safa nach.
»Safa, in deine Schule gehen rund achthundert Kinder. Versuch sie dir alle auf einmal vorzustellen«, half Sophie ihr, die Zahl zu erfassen.
Safa schloss die Augen, um sich den mit Kindern überfüllten Schulhof bildlich vorzustellen.
»Zehnmal so viele Mädchen wie Schüler, die du gerade siehst, werden heute, morgen, übermorgen, an jedem einzelnen Tag gequält.«
Die kleine Wüstenblume riss schockiert die Augen auf. »Das ist ja unfassbar«, flüsterte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Ehe Sophie mit ihrem Vortrag fortfuhr, machten sie eine kurze Pause, die Juliana nutzte, um Safa geschickt abzulenken und mit ihr ein Eis essen zu gehen. Weibliche Genitalverstümmelung war ohnehin kein leichtes Thema für ein so kleines Kind, und Safa hatte sich bisher sehr tapfer geschlagen. Aber der folgende Teil war nun wirklich nicht für ihre Ohren bestimmt, und sie wollten das Mädchen auf keinen Fall überfordern.
Zunächst erläuterte Sophie ihren beiden Zuhörern die Problematik, dass FGM zwar hauptsächlich in Nordost-, Ost- und Westafrika praktiziert wurde, dass sich durch die weltweite Migration das Ritual jedoch auch in den Nahen Osten, nach Südostasien und sogar nach Europa, Kanada, Australien, Neuseeland und in die USA ausgebreitet hatte.
Wieder meldete sich Inab zu Wort. »Ich verstehe das nicht. Wieso machen die Menschen das dann immer noch? Hier können die Mädchen doch zur Schule gehen, einen Beruf lernen und gutes Geld verdienen.«
»Ich denke, die Einwanderer hängen so sehr an ihren Gewohnheiten, den Traditionen«, erwiderte Sophie. »Sie kommen sich dann nicht ganz so fremd vor und haben das Gefühl, etwas von ihrer Heimat mitgebracht zu haben.« Sie erklärte weiter, dass in vielen Ländern der Welt zwar Gesetze gegen FGM existierten, dass die Rechtslage jedoch etliche Lücken aufwies. »Allein in Europa leben Schätzungen zufolge rund fünfhunderttausend verstümmelte oder von FGM bedrohte Mädchen und Frauen.«
Idriss und Inab hörten Sophie nach wie vor gebannt zu, daher wagte sie sich nun zu einem besonders heiklen Part vor, den Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung.
»Beim Geschlechtsverkehr reißen in der Regel die Narben der Beschneidung wieder auf. Die Schmerzen, die die Frauen dabei empfinden, sind unvorstellbar. Sexualität stellt daher ein großes Problem für sie dar.«
Wie befürchtet blickte Idriss wütend auf. »Wieso?
Mon chérie
liebt mich. Meine Frau hat mir noch nie gesagt, dass sie Schmerzen hat«, echauffierte er sich.
Inab stieß ihn von der Seite an. »Die meisten Frauen ertragen diese Schmerzen stumm«, erklärte sie ihm. »Ist doch klar, dass Fozia dir nichts davon sagt. Was würde es ihr schon nützen?«
Eine durchaus berechtigte Anmerkung, die Safas Vater mit einer abfälligen Handbewegung abtat.
Sophie fuhr fort: »Vor allem bei der Geburt eines Kindes kann es zu verstärkten Blutungen und Geweberissen kommen. Sehr oft ist ein Kaiserschnitt erforderlich, der aber aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung nicht durchgeführt werden kann. Wusstet ihr«, fragte die Foundation-Mitarbeiterin ihre beiden Zuhörer, »dass Ostafrika eine der höchsten Raten von Müttersterblichkeit weltweit hat? Und FGM spielt dabei eine
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