Sag, dass du eine von ihnen bist
er weinte. Seit er mit Christen in Mallam Abdullahis Haus gelegen hatte und ihm Tränengas in die Augen gedrungen war, hatte er nicht mehr geweint. Jetzt jedoch
rannen ihm die Tränen unaufhörlich übers Gesicht, und immer wieder wischte er die wässrigen Tropfen fort. Ein Schluchzen schüttelte ihn wie Nduese, wenn den ein Hustenanfall packte. Jubril drehte sich auf seinem Platz um, damit er den Bildschirm nicht mehr sehen musste, und in seinem Kummer vergaß er sich: Er hob die Rechte ans Gesicht.
Er versuchte, sie gleich wieder in die Tasche zu stecken, aber es war zu spät. Wer den Stumpf gesehen hatte, rückte von ihm ab, sogar Tega. Als Jubril rundherum in steinerne Mienen blickte, wusste er, dass es keinen Zweck hatte, noch weiter etwas verbergen zu wollen. Die Polizei befahl ihm, aufzustehen und in den Gang zu gehen. Sie tasteten ihn nach Brandbomben und Waffen ab.
Man hatte ihm die Hand direkt oberhalb des Gelenks abgeschlagen. Der Stumpf war noch nicht verheilt, weshalb er den Arm noch nicht wieder richtig strecken konnte. Eine lockere Halbkugel aus schmutzigen Binden, die seine Tasche wie eine geballte Faust ausgebeult hatte, umhüllte die Wunde. Die Polizei riss die Bandage ab und warf sie aus dem Fenster. Die verletzte Haut rund um den Stumpf leuchtete weiß und war straff gespannt.
Die Passagiere baten den Fahrer, den Bus anzuhalten und Jubril rauszuwerfen. Er weigerte sich, sagte, die Straße sei zu unsicher. Jubril schaute die Umstehenden an und wusste, sie würden ihn lynchen. Er zitterte, mehr vor Fieber als vor Angst, gab aber keinen Laut von sich und wehrte sich auch nicht, als man ihn zum Ausgang stieß.
»Schluss damit! Aufhören!«, mischte sich Häuptling Ukongo ein. »Mein Volk, eine Zecke, die sich in unserer Haut verbeißt, entfernt man nicht mit Gewalt … Ein in Wut geworfener Stein tötet keinen Vogel …«
»Wir haben jetzt keine Zeit für deine Sprichwörter, alter Mann«, sagte einer der Polizisten.
»Mein Volk, wie würde sich unser Herr Jesus in solch einer Lage verhalten?«
»Heide … willst dich mit dem Christentum besser auskennen als wir?«
Sie zerrten an Jubrils Hemd, rissen es ihm vom Leib und musterten ihn, wie man ein gerade gefangenes wildes Tier betrachtet. Sie bewegten sich langsam, zielstrebig, als hätte sich ihre Wut an einem Ort angestaut, zu dem sie keinen Zugang hatten.
»Bitte, Gabriel«, sagte Madame Aniema, »erzähl mir nicht, dass du einer von denen aus dem Norden bist.«
»Ist er«, erwiderte Emeka. »Schuldig …«
»Pssst, sei still«, fuhr sie Emeka an, und auch alle anderen verstummten. »Du bist doch kein Muslim, Gabriel, oder?«
»Äh … ähm … ich komm aus dem Süden, bin aber aus dem Norden«, antwortete er mit starkem Hausa-Akzent. »Ich bin Katholik. Bin getauft. Mama hat immer gesagt: Einmal Katholik, immer Katholik. Und ich möchte Katholik bleiben, abeg !«
»Bist du ein Muslim?«, fragte ihn Madame Aniema erneut.
Er schüttelte den Kopf. »Nee, bin nicht wieder Muslim.«
»Ich verstehe«, sagte sie und brach in Tränen aus. Sie flehte die Passagiere an, man möge sie noch ein wenig länger mit ihm reden lassen, doch wurde sie einfach beiseitegestoßen. Man beschimpfte sie, weil sie weinte, sagte ihr, sie sei zu gefühlsduselig, um der Wahrheit ins Auge zu sehen.
»Nun, jetzt mal im Ernst«, sagte Häuptling Ukongo. »Welcher Norden? Welcher Süden? Bist du aus Niger? Oder aus dem Tschad?«
»Nein, Häuptling.«
»Bist du ein Söldner?«, fuhr er fort.
»Nein, Häuptling.«
»Denn, mein Sohn«, sagte er, »wir kennen einige Politiker im Norden, die mit arabischem Geld Söldner aus Niger und
dem Tschad angeheuert haben, um in diesem Scharia-Krieg für sie zu kämpfen.«
»Ich bin einer von euch, Häuptling«, sagte Jubril. »Ich steck kein Geld von Politikern ein.« Sein schlanker Leib neigte sich ein wenig nach links, als zöge ihn die verbliebene Linke zu Boden. Der Stumpf bebte und zitterte, als wäre er der Quell von Jubrils Fieber. Die Armmuskeln zuckten, zogen sich zusammen und lockerten sich, als versuchte die fehlende Hand zuzugreifen.
»Was diesen Jungen angeht, wasche ich meine Hände in Unschuld«, sagte der Häuptling und schüttelte den Kopf.
»Mein Dorf kriegt Öl … Ukhemehi!«, erklärte Jubril. Wieder versuchte er, die wirre Geschichte seiner religiösen Identität zu erzählen, doch verrieten ihm die mordlüsternen Blicke, dass es zwecklos war. Das waren nicht die Blicke von Katholiken, von
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