Sag, dass du eine von ihnen bist
Augen geschlossen. Als er sie wieder öffnet, sind sie bewölkt wie der Himmel bei Regen. Maman kommt, gibt mir das Geld in die Hände und legt den Ring obenauf.
»Geh nicht weg, Maman. Papa liebt dich.«
»Ich weiß, Monique, ich weiß.«
»Gehst du, weil du gestern Abend ausgegangen bist?«
»Nein, nein, ich war gestern Abend gar nicht aus!«, sagt sie. Ich kümmere mich nicht weiter um den Altar, knie mich vor Papa hin und flehe ihn mit all meiner Liebe an, ihr zu vergeben, auch wenn sie lügt. Er wendet sich ab. Ich gehe zurück zum Sofa. »Dein Papa ist ein guter Mann«, sagt Maman und umarmt mich.
Ich schubse Jean zu ihr hin, aber sie schlägt den Blick nieder. Ich denke an Le Père Mertens und flehe Maman an, doch zu warten, bis er aus Belgien zurückkommt und sie wieder miteinander versöhnt. »Wenn du Le Père Mertens beichtest«, sage ich, »wird Jesus dir vergeben.«
Es klopft leise an die Tür. Maman richtet sich auf und stößt Jean von sich, als wäre er ein Skorpion. Jemand weint leise vor dem Haus. Maman geht an Papa vorbei, um den Tisch beiseitezurücken und die Tür zu öffnen. Es ist Hélène. Sie liegt der Länge nach auf unserer Schwelle. Maman trägt sie rasch hinein, und Papa verschließt die Tür.
Hélène ist blutüberströmt, sie kam durch den Staub zu uns gekrochen. Ihr rechter Fuß hängt nur noch an den Sehnen wie ein Schuh, der mit den Schnürsenkeln an einer Wäscheleine festgebunden wurde. Papa bindet ihr den Fuß mit einem Handtuch ab, aber das Blut dringt durch. Ich halte ihre Hand; sie ist kalt und klamm.
»Du schaffst das, Hélène«, sage ich. Sie wird ohnmächtig.
»Nein, beim heiligen Judas Thaddäus, nein!«, ruft Maman und nimmt Hélènes schlaffen Leib in den Arm. »Deine Freundin wird wieder gesund, Monique.«
Ich höre den Mob näher kommen, aber meine Eltern interessieren sich vor allem für Hélène. Papa steigt auf einen Stuhl, dann auf den Tisch. Er öffnet die Luke in der Wohnzimmerdecke und bittet Maman, ihm Hélène heraufzureichen.
»Denk dran, da oben sind schon zu viele«, sagt Maman. »Als ich runterkam, waren es fünf … und vor ein paar Stunden habe ich noch zwei raufgebracht. Die Decke bricht uns ein.«
Sie bringen Hélène in mein Zimmer, und Maman zieht die Luke auf. Eine Staubwolke regnet von der Decke herab. Sie schieben Hélène hinein.
Jetzt begreife ich – sie verstecken Leute im Zwischenboden. Maman war letzte Nacht da oben. Sie hat mich angeschwin
delt. Heute sagt mir niemand die Wahrheit. Morgen werde ich sie daran erinnern, dass Lügen eine Sünde ist.
Als der grölende Mob unser Haus umzingelt, beginnen die Deckenleute zu beten. Ich erkenne ihre Stimmen, es sind unsere Tutsi-Nachbarn, Gemeindemitglieder. Sie verstummen, als Papa die Tür öffnet und den Mob einlässt, der größer ist als der von gestern Abend und wie eine Flut in unser Haus eindringt. Die Leute sehen müde aus, singen aber, als wären sie betrunken. Ihre Waffen, die Hände, Schuhe und Kleider sind blutbefleckt, die Handteller klebrig. In unserem Haus riecht es plötzlich wie in einer Schlachterei. Ich entdecke den Mann, der mich angegriffen hat; seine gelbe Hose ist jetzt rotbraun. Er starrt mich an; ich klammere mich an Papa, der den Kopf hängen lässt.
Maman rennt ins Schlafzimmer. Vier Männer halten Tonton André zurück, der uns immer noch alle umbringen will. Ich renne zu Maman und setze mich zu ihr aufs Bett. Gleich darauf folgt uns der Mob und bringt Papa mit. Sie drücken ihm eine große Machete in die Hand. Er beginnt zu zittern, die Augen blinzeln. Ein Mann reißt mich von Maman fort und schubst mich zu Jean, der in einer Ecke kauert. Papa steht vor Maman, die Finger umklammern den Messergriff.
»Bitte«, murmelt er, »lasst das jemand anderes tun.«
»Nein, du tust es, du Verräter!«, schreit Tonton André und wehrt sich gegen die Leute, die ihn festhalten. »Du warst dabei, als ich gestern Annette getötet habe. Meine schwangere Frau. Da kannst du deine nicht behalten. Wohin bist du überhaupt verschwunden, als wir gestern Abend hierherkamen? Liebst du deine Familie mehr als ich meine? Ja?«
»Wenn wir deine Frau für dich töten«, sagt der Zauberer, »müssen wir dich auch umbringen. Und deine Kinder.« Er schlägt mit dem Stock auf. »Sonst befreien wir das Land von dieser Tutsi-Pest, aber deine Kinder fallen über uns her. Wir
müssen ein reines Volk bleiben. Nichts soll unser Blut verdünnen. Kein Gott. Keine Ehe.«
Tonton André
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