Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
könne er es durch Willenskraft zum Klingeln bewegen. Er versucht, sich an jedes Wort zu erinnern, das Piper zu ihm gesagt hat, geht ihr Gespräch wieder und wieder durch, als könnte es ihm einen Hinweis geben. Vor Kurzem war er noch von Gedanken an die Untreue seiner Frau verzehrt, doch die sind jetzt vergessen.
»Irgendjemand sagt doch Sarah Bescheid, oder?«, fragt er. »Die Polizei wird sie anrufen.«
»Bestimmt.«
»Sie haben Piper gesagt, sie soll in Bewegung bleiben. Hätten wir ihr nicht erklären sollen, dass sie bleiben soll, wo sie ist?«
»Sie muss sich warm halten.«
»Aber wie sollen sie dann …«
»Die Polizei kann das Signal orten, auch wenn sie in Bewegung ist.«
Er nickt und blickt wieder auf das Handy.
»Darf ich Sie was fragen?«, sage ich. »Hat Piper Phillip Martinez je persönlich kennengelernt?«
»Emilys Vater? Ich weiß nicht. Emily hat früher bei ihrer Mutter gelebt. Ihr Vater war in den Staaten. Er ist erst nach Amandas Zusammenbruch zurückgekommen.«
Ohne den Verkehr aus den Augen zu lassen, unterbricht Ruiz uns und rattert die Hintergrundinformationen herunter, die Capable Jones ausgegraben hat. Phillip Martinez wurde 1972 in Manchester geboren, studierte nach dem Abitur Medizin am King’s College in London und promovierte an einem Forschungszentrum in Boston.
»Er hat nie praktiziert«, sagt Ruiz. »Stattdessen hat er sich auf die medizinische Forschung konzentriert, für Pharmaunternehmen und in Kliniken in Chicago und Hawaii gearbeitet, bevor er seine jetzige Position in Oxford annahm. Capable hat mit einem seiner früheren Dozenten gesprochen, der meinte, es würde Martinez bestimmt nicht an Selbstbewusstsein mangeln. Er war fest davon überzeugt, den Nobelpreis zu bekommen. Es war lediglich eine Frage der Zeit.
Bis er es sich mit seiner Zunft verdorben hat. Vor fünf Jahren sah er sich in Honolulu mit der Anschuldigung konfrontiert, in zwei Artikeln für medizinische Fachzeitschriften Daten über Biomarker und Krebstherapien gefälscht zu haben. Er bestritt die Vorwürfe und beschuldigte später eine Doktorandin, die mit ihm zusammenarbeitete. Er behauptete, sie habe die Daten frisiert. Sie verlor ihren Job, hinterließ einen Abschiedsbrief und verschwand im Meer.«
»Und Martinez?«
»Das Office of Research Integrity führte eine Untersuchung durch, die jedoch letztlich ergebnislos eingestellt wurde. Er musste zweihunderttausend Dollar an Forschungsgeldern zurückzahlen. Danach ist er nach England zurückgekehrt.«
»Was ist mit Mrs Martinez?«
»Amanda Lowe wuchs in London auf und war eher der Typ unbekümmerter Hippie. Freunden zufolge war sie an der Uni eine glühende Sozialistin, wurde jedoch nach ihrer Heirat ruhiger. Die beiden waren ein merkwürdiges Paar. Der gute Doktor ist ein fanatischer Konservativer, kontrollfixiert, pedantisch und offenbar ziemlich brillant. Die Ehe hielt neun Jahre und ging etwa um die Zeit des Forschungsskandals in die Brüche. Anfangs kämpfte Martinez nicht um das Sorgerecht, kehrte jedoch nach dem Zusammenbruch seiner Frau nach England zurück. Er beschuldigte Amanda des Medikamenten- und Alkoholmissbrauchs und verlangte, dass ihre Krankenakte als Beweismittel in dem Sorgerechtsverfahren berücksichtigt wurde. Ihre beiden Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik haben das Gericht schließlich umgestimmt, und Emily ging an ihren Vater.«
Ein beunruhigendes Unbehagen wächst in mir wie ein schädliches Unkraut. Martinez hat Medizin studiert und dabei wahrscheinlich auch ein chirurgisches Praktikum gemacht. Laut Dr. Leece hatte der Täter, der Natasha verstümmelt hat, elementare chirurgische Kenntnisse oder zumindest eine rudimentäre medizinische Ausbildung.
Martinez ist Forscher. Er ist es gewöhnt, seine Experimente zu kontrollieren, Variablen zu kennen und zu eliminieren. In der wissenschaftlichen Forschung geht es um Fragen und Beobachtungen auf der Suche nach Fakten, die frei von Vorurteilen und Verzerrungen sind. Es geht um Objektivität, Vergleichspräzision, Genauigkeit und Beweisbarkeit.
Seine Modelleisenbahn ist ein weiteres Indiz für seine pedantische Akribie. Bis ins kleinste Detail hat er eine Miniaturwelt gebaut, in der er alles kontrolliert, Lichter, Schalter, Züge, Fahrpläne … Die meisten Psychopathen erschaffen komplizierte Fantasiewelten in ihrem Kopf – er hat eine in der Realität erschaffen.
Der Range Rover rollt durch die Außenbezirke von Oxford, die Straßen sind erstaunlich leer. Die
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