Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
Lichtblitze oder eine verlorene Wimper. Ich habe Lieblingswörter. Opalisieren ist ein gutes Wort. Genau wie Sammelsurium. Episch. Penibel. (Tash sagte, das würde ich nur mögen, weil es wie das Adjektiv zu »Penis« klingt.) Tollkühn. Halunke. Oxymoron. Tohuwabohu.
Ich habe drei Hefte, die ich unter meiner Matratze verstecke. Ich schreibe in der Ecke unter der Leiter, nur für den Fall, dass die Kamera mich beobachtet.
Wenn ich etwas aufschreibe, gehört es mir. Es hängt nicht mehr in der Luft wie Cartoon-Seifenblasen oder Rauchfahnen. Es wird real. Greifbar. Unterhaltungen bleiben nicht. Gesprochene Wörter verblassen. Wir hören nicht mehr zu. Vergessen.
Das habe ich heute Morgen aufgeschrieben.
– Ich habe geträumt, ich hätte eine durchgehende Braue.
– Krämpfe. Meine Periode kommt.
– Spaghetti mit Fleischklößchen … schon wieder.
– Die Gasflasche ist fast leer.
– Ich muss Socken waschen, habe aber jedes Paar an.
Bevor ich verschleppt wurde, klangen meine Listen ganz anders. Ich schrieb auf, warum ich unglücklich war.
– Weil Mum und Dad sich dauernd streiten
– Weil ich hässlich bin.
– Weil ich kein Vampir bin.
– Weil mein Zimmer ein Chaos ist.
Meine Handschrift wird immer kleiner, als würde ich schrumpfen. In Wirklichkeit geht mir nur das Papier aus, deshalb versuche ich, die Ränder und weißen Lücken nicht zu verschwenden, sondern sie mit Wörtern zu füllen, um die Zeit zu vertreiben. Nach dieser habe ich nur noch eine Seite übrig. Jedes Wort zählt.
Man muss sich beschäftigen. Die Tage hinter sich bringen. Tash hat Zeitschriften zerschnitten und an der Wand Collagen aus Text und Fotos gemacht, um eine bizarre Welt zu erschaffen, wo Leute Hundeköpfe und Bikinikörper haben. Es ist wirklich raffiniert, denn von der anderen Seite des Raumes kann man erkennen, dass all die wahllosen Bilder und Buchstaben zusammen ein größeres Bild ergeben – das Porträt eines Mädchens. Tash sagte, es wäre ein Bild von mir, doch ich bin nicht hübsch, und niemand wird je ein Bild von mir malen.
Wahrscheinlich denkt ihr, ich hätte eine geringe Selbstachtung. Das habe ich meiner Mutter zu verdanken. Sie hat dafür gesorgt, dass ich meine Erwartungen zurückschraube. Sie war Debütantin und Fotomodel bei Automessen gewesen, aber sie tut gerade so, als hätten Yves Saint Laurent und Versace sie zur Muse erwählt.
Und sie tut so, als stammte sie aus einer wohlhabenden Oberschichtsfamilie, dabei weiß ich, dass meine Großeltern eine Bed & Breakfast-Pension am Meer hatten und sie auf das örtliche staatliche Gymnasium geschickt haben.
Ich weiß nicht, was mein Dad an meiner Mum findet – abgesehen von ihrem Aussehen natürlich –, aber Schönheit geht nicht unter die Haut und ist kurzlebig im Auge des Betrachters. Ja, meine Klischees hab ich drauf. Auf ihrem Hochzeitsfoto sieht meine Mutter aus wie Natalie Portman, und Daddy wie Natalie Portmans Vater, der sie zum Altar führt.
Mir gehen seine Geduld und sein Pflichtgefühl ab, wenn es darum geht, Mum zu lieben. »Alles für ein ruhiges Leben«, sagte er immer. Ich kann noch ein paar Klischees liefern. Bring das Boot nicht zum Schaukeln, mach keine Wellen, stürz den Karren nicht um.
Mum war ständig in irgendwelchen Wellness-Spas, um ihre Batterien neu aufzuladen. Daddy störte das offenbar nicht, weil er dann eine Woche entspannen konnte. Bei ihrer Rückkehr gab sie extravagante Partys und füllte das Haus mit Schnorrern und Claqueuren, die unser Essen aßen und unseren Alkohol tranken, während sie die Gutsherrin gab.
Ich habe davon geträumt, von zu Hause abzuhauen. Ich wollte irgendwohin gehen, wo ich mich verlieren konnte. Bingham ist nicht groß genug, um sich darin zu verlieren. Es ist öde. Der Arsch der Welt. Es ist wie bei einem Verwandtenbesuch, wo man schon vorher weiß, wo man isst und tankt, welche Lieder man singt und von welcher süßen Limo man kotzen muss. Und wenn man ankommt, kneift einem jemand in die Wange und sagt, wie groß man geworden ist.
Ich weiß nicht, warum ich solchen Kram aufschreibe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand meine Notizbücher irgendwann findet und liest. Und wenn doch, weiß ich nicht, ob er oder sie jung und traurig ist. Denn das ist die Sorte Leser, die mich verstehen wird: jung und traurig und einsam.
15
Das Hauptportal der Kirche ist abgeschlossen, doch ich finde eine Tür an der Seite des südlichen Querschiffs. Dr. Leece’ Frau hat mir erzählt, wo ich ihn
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