Sag mir, wo die Mädchen sind
gewöhnt, im Sudan so mit den Schwestern zu schlafen. Nicht im Bett.»
«Mit den Schwestern? Haben Sie noch mehr Töchter?» In den Informationen, die Koivu zusammengestellt hatte, war nur von den älteren Brüdern die Rede gewesen.
«Ich hatte noch zwei Mädchen. Sind dort geblieben. Essen im Lager nicht genug für alle.» Aishas Stimme klang kraftlos. «Bei vielen alle Kinder gestorben.»
Was hätte ich darauf erwidern können? War der Verlust der Kinder leichter zu ertragen, wenn es anderen Müttern ebenso erging und man selbst wenigstens einige Kinder behalten durfte? War die Qual geringer, wenn man sie schon einmal durchgemacht hatte? Hätten Ayans Eltern das Mädchen freiwillig in die Hölle zurückgeschickt, in der ihre anderen Töchter umgekommen waren? Plötzlich wünschte ich mir, daheim bei Iida und Taneli zu sein, sie zu beschützen, mich zu vergewissern, dass ihnen keine Gefahr drohte.
«Ayans Sachen sind da.» Aisha zeigte auf die Truhe, auf der ein buntes Sitzkissen lag, das aussah, als hätte die Familie es aus dem Sudan mitgebracht.
Ich öffnete die Truhe, ohne um Erlaubnis zu bitten. Als Koivu aufstand und hinter mich trat, um zu sehen, was sich in der Truhe befand, protestierte Ayans Vater empört. Es schickte sich nicht, dass ein fremder Mann, und sei er Polizist, die Unterwäsche seiner Tochter zu Gesicht bekam. In der Truhe lagen außerdem eine weite, dunkelrote Hose, drei bunte Tunikas und ein schwarzes Kopftuch. Eine halbfertige Stickarbeit zeigte außer Rosen auch Kornblumen, und ich fragte mich unwillkürlich, ob die auch im Sudan wuchsen. Ganz unten waren Lippenstift und Wimperntusche versteckt. Kein besonders gutes Versteck, denn die Truhe hatte kein Schloss. Hier hatte Ayan also geschlafen, nur durch das Sofa abgeschirmt.
Ich musterte das Zimmer, bemühte mich, alle Sinne zu schärfen, zu schnuppern wie ein Spürhund. Aber ich war keine Fernsehdetektivin, die übernatürliche Fähigkeiten besitzt und durch bloße Konzentration imstande ist, alles zu sehen, was in dem Raum passiert war. Natürlich war ich fähig, Ängste und Spannungen zu spüren, das hatte man uns schon in den ersten Vernehmungskursen an der Polizeischule gelehrt. Damals hatte man uns allerdings nur beigebracht, die homogene finnische Kultur zu verstehen. Lediglich in einer einzigen Unterrichtsstunde hatten die Ausbilder versucht, bei uns Polizeianwärtern Verständnis für die Kultur der Sinti und Roma zu wecken.
Schweigsamkeit war allerdings keine exklusive Eigenschaft der Finnen. Antti hörte gern und oft die Wittgenstein-Platte von M. A. Numminen, der auf Deutsch krähte, wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen. Auch die üblichen Beteuerungen, durch Reden lasse sich alles klären, konnten diese Wahrheit nicht umstoßen. Und bei der Polizeiarbeit ging der Kern der Sache oft in einer endlosen Wortflut unter, in der ständigen Wiederholung eines auswendig gelernten Mantras. Vor allem im Bereich der Wirtschaftskriminalität schafften es geschickte Ganoven immer wieder, die Ermittler durch Wortklingelei in die Irre zu führen.
Als Ausbilderin an der Polizeifachhochschule hatte ich oft genug betont, dass man bei Vernehmungen von Migranten mit Flüchtlingsstatus taktvoll vorgehen müsse. Während die meisten gebürtigen Finnen der Polizei vertrauten, herrschte in den Herkunftsländern der Flüchtlinge nämlich eine völlig andere Situation; begegnete man einer Person, die lange gefoltert worden war, mit Drohungen, konnte das im schlimmsten Fall eine Psychose auslösen. Doch ich konnte jetzt nicht darüber nachdenken, ob es falsch gewesen war, Aisha auf den Verdacht gegen ihre Söhne anzusprechen, denn ich musste weiter nach der Wahrheit suchen.
Ayans Haarbürste sei in der Handtasche, die sie immer bei sich trage, sagte Aisha. Die Zahnbürste hatte sie weggeworfen, und die Kleider in der Truhe waren frisch gewaschen. Es würde nicht leicht sein, eine DNA -Probe zu bekommen, aber vorläufig brauchten wir sie ja nicht. Den Beutel aus dem Staubsauger nahmen wir jedoch mit, was Ali Jussuf Hassan mit ungläubigem Kopfschütteln quittierte.
Ich hatte das Gefühl, dass wir die Wohnung mit leeren Händen verließen. Koivu und Puupponen hatten Ali Jussuf Hassan nicht mehr entlocken können als die Beteuerung, keines der Familienmitglieder wisse, wo Ayan sei. Er selbst suche jeden Tag nach ihr und frage alle Busfahrerkollegen, ob sie Ayan gesehen hätten. Die Internetgerüchte hatte er als leeres
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