Sag mir, wo die Mädchen sind
war nur etwa ein Drittel finnisch, an einigen Türen hingen zusätzlich Zettel mit weiteren Namen. An einem Briefschlitz standen vier verschiedene finnische Nachnamen. In Arpikylä, der Ortschaft im Nordosten Finnlands, wo ich meine Kindheit verbracht hatte, waren Scheidungen und vaterlose Kinder eine Seltenheit gewesen. Der vaterlose Junge, der in der Unterstufe in meiner Klasse gewesen war, hatte die Vatertagskarte für seinen Großvater gebastelt, aber bei meiner Klassenkameradin Minna, die weder Vater noch Großvater hatte, war der Lehrer in Verlegenheit geraten. Schließlich hatte er gesagt, sie solle irgendetwas malen, während wir anderen Blumen und Autos auf unsere Karten zeichneten. Heutzutage brauchte man sich über so etwas zum Glück nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Allerdings fragte ich mich, ob Vater- und Muttertag kulturell neutrale Feste waren, sodass die Migranten sie unabhängig von ihrer jeweiligen Religion akzeptieren konnten. Und feierten Muslime eigentlich den Tag der Frau? Darüber wusste meine Tochter Iida wahrscheinlich mehr als ich. Zwar hatte sie in ihrer Klasse nur finnische sowie einen estnischen und einen russischen Mitschüler, aber im Club traf sie mit Mädchen aus etwa zwanzig Ländern zusammen.
An der Wohnungstür von Ayans Familie stand «Hassan». Der Mann, der uns öffnete, kam mir bekannt vor. Nach einigem Nachdenken wurde mir klar, dass er oft am Steuer des Busses saß, der aus unserer Siedlung nach Helsinki fuhr. Er sprach Finnisch mit starkem Akzent, aber fließend. Koivu und ich hatten die Mäntel im Wagen gelassen und streiften sorgfältig die Schuhe am Fußabtreter ab. Hassan führte uns in ein Zimmer, in dem sich Ikea und Ostafrika begegneten: Das mit Holzbeinen versehene, weiß gepolsterte Sofa und der Fernsehtisch aus Birkenfurnier hätten in jeder finnischen Wohnung stehen können, während die farbigen Textilien der restlichen Einrichtung das ursprüngliche Heimatland der Familie repräsentierten. Finnen, die im Ausland lebten, sagten oft, sie vermissten Salmiak und Roggenbrot. Welche Spezialitäten ihrer Heimat vermissten die Sudaner? Oder genügte es ihnen, dass man im Laden Reis bekam und im Land Frieden herrschte?
Ali Jussuf Hassan bat uns, Platz zu nehmen. Mich sah er nicht an, die Hand hatte er keinem von uns gegeben. Koivu fragte als Erstes, ob die Familie etwas von Ayan gehört habe und ob ihre Mutter zu Hause sei.
«Kein Wort. Schon zwei Wochen und kein Wort. Wir können ihnen nichts erzählen. Niemand weiß etwas, nicht die Nachbarn, nicht die Verwandten. Meine Frau ist in der Küche. Sie weiß auch nichts.»
Ayan hatte am Valentinstag in den Mädchenclub gewollt, war dort aber nie angekommen. Es hatte sie auch niemand in den Bus einsteigen sehen. Ali Jussuf Hassan hatte die Kollegen gefragt, die an dem betreffenden Abend Dienst gehabt hatten, aber keiner erinnerte sich an Ayan.
«Ich wusste nicht, dass in Finnland so etwas passieren kann. Im Sudan ist ein Leben nicht viel wert, aber hier sollten wir in Sicherheit sein», sagte er ernst. Er trug eine schwarze Anzughose, sein weißes Hemd war gebügelt und fleckenlos. Ich hörte ein Klappern, stand auf und ging auf das Geräusch zu. Hinter der geschlossenen Küchentür plätscherte Wasser, es klang, als würde gerade Geschirr gespült. Als ich die Tür aufmachte, drehte eine Frau sich zu mir um und schrie erschrocken auf. Ich wusste nicht, welchen Eindruck ich auf sie machte. Ich trug keine Uniform und hatte bewusst einen wadenlangen schwarzen Rock, violette Stiefel und einen weiten Pullover angezogen, um in Aisha Muhammed Alis Augen nicht aggressiv zu wirken. Sie war in meinem Alter, aber viel dünner als ich. Ihre Gesichtshaut spannte sich wie eine straffe Maske, um die Augen und den Mund hatten sich zahlreiche Falten eingegraben. Sie trug eine runde Brille und ein langes, buntes Kleid, dessen Ärmel sie zum Spülen aufgerollt hatte. Als ich eintrat, rollte sie die Ärmel hastig herunter und zog das weiße Tuch, das ihre Haare verdeckte, tiefer in die Stirn.
«Kommissarin Maria Kallio von der Espooer Polizei. Wir untersuchen das Verschwinden Ihrer Tochter Ayan.»
Koivu und Puupponen hatten Anweisung, Ayans Vater zu den Gerüchten im Internet zu befragen, in denen Ayans Brüder beschuldigt wurden, ihre Schwester getötet zu haben. Puupponen hatte sich mit dem Webportal in Verbindung gesetzt, in dem diese Gerüchte publik gemacht worden waren, und der Webmaster hatte ihm die entsprechenden Dokumente
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