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Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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niedlicher Fratz», sagte er, als er mir die Haustür aufhielt. Die Eingangshalle dieses Hauses war schmutziger als die des vorigen. Auf das Schwarze Brett war – offensichtlich erst vor kurzem – der Satz «Nigger raus» gesprayt worden. Darunter hatte offenbar jemand mit Bleistift einen Kommentar geschrieben, in einer Schrift, die ich nicht kannte.
    Die Wohnung der Amirs lag im ersten Stock. Die weiße Farbe an den Betonwänden im Treppenhaus war an manchen Stellen abgeschürft, als hätte jemand große Möbelstücke transportiert, die immer wieder gegen die Wand gestoßen waren. An der Tür hing ein Kranz aus hellroten künstlichen Rosen, dekoriert mit goldenem Lametta. Die Familie war muslimisch, doch im muslimischen Bevölkerungsteil Bosniens standen viele der Religion gleichgültig gegenüber. Vielleicht hatten die Amirs finnische Weihnachtsbräuche übernommen und vergessen, den Kranz abzunehmen? Obwohl Heiligabend schon mehr als zwei Monate zurücklag, roch es weihnachtlich: nach Zimt, Kardamom und Ingwer. Koivu klingelte. Das Geräusch war überraschend laut, als hätte man die normale Türklingel gegen eine Spezialanfertigung ausgetauscht. Da sich nichts rührte, drückte Koivu noch einmal auf den Knopf. Nachdem der Klingelton verstummt war, ertönte ein seltsames Geheul.
    «Haben die einen Hund?», wunderte sich Koivu und hob den Briefschlitz. Nun war das Geheul deutlicher zu hören. Es kam nicht aus der Diele, sondern aus dem rückwärtigen Teil der Wohnung. Wer oder was das Geräusch erzeugte, war schwer zu erkennen. Es klang unmenschlich, schien aber auch nicht von einem Tier zu stammen. Wer immer da heulte, war zweifellos in Not.
    «Aufmachen, Polizei!», rief Koivu durch den Briefschlitz, worauf das Geheul anschwoll. Da flog die Tür der Nachbarwohnung auf, schlug Puupponen in den Rücken und warf ihn gegen die Wand.
    «Wer macht hier solchen Krach?»
    Koivu schaute entgeistert, und auch mir fiel die Kinnlade herunter. Die Frau war klein und rundlich, unter ihrem Kopftuch lugten Lockenwickler hervor, und sie trug Pantoffeln und einen Hausmantel wie in einem finnischen Film aus der Nachkriegszeit. Zu allem Überfluss hielt sie eine Nudelrolle in der Hand, mit der sie drohend herumfuchtelte.
    «Hat die Tür jemanden erwischt? Selber schuld, Sie hätten besser aufpassen müssen», fügte die Frau hinzu. Puupponen kam mit roter, aber wenigstens nicht blutender Nase hinter der Tür hervor.
    «Wir sind von der Espooer Polizei, guten Tag. Wir wollen zu Familie Amir.»
    «Von der Polizei, aha. Können Sie sich ausweisen? Und zwar einzeln, bitte.»
    Wir zückten unsere Dienstausweise, die sie genau prüfte. An ihrer Tür stand «Kämäräinen». Die resolute Dame sah nicht so aus, als wolle sie uns hereinbitten.
    «Na, vermutlich sind die echt. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Mein Vater war Polizist in Ruovesi, und er hat mir immer wieder gesagt, man darf den Menschen nicht blind vertrauen. Die am nettesten aussehen, sind meistens die schlimmsten Gauner. Bei den Amirs ist keiner zu Hause, außer dem verrückten Sohn, dem Samir. Was wollen Sie von denen? Ist etwas passiert?»
    «Warum macht Samir solchen Lärm?», fragte ich zurück. Dass Sara verschwunden war, behielt ich vorläufig für mich. «Fehlt ihm etwas?»
    «Der hat so eine angeborene Panik, jedenfalls war er von Kind an seltsam. Manchmal hat er sogar vor der Klingel Angst. Wollen Sie mit ihm reden? Ich habe einen Zweitschlüssel. Manchmal gehe ich in die Wohnung und beruhige den Jungen, wenn er einen Anfall hat.»
    Laut Polizeivorschrift hatten wir in Vermisstenfällen das Recht, die Wohnung der vermissten Person ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Sara war schon seit fast drei Wochen verschwunden, die Familie hatte also reichlich Zeit gehabt, alles zu verstecken, was dagegensprach, dass Sara freiwillig abgereist war. Aber da uns der Schlüssel unerwartet angeboten wurde, nahm ich dankend an. Frau Kämäräinen verschwand in ihrer Wohnung, um ihn zu holen, zog die Tür hinter sich zu und ließ uns im Treppenhaus warten.
    «Wann haben Sie Sara Amir zuletzt gesehen?», fragte ich sie, als sie mit einem Schlüssel zurückkam, an dem eine Plastikrose hing, von derselben Art wie in dem Kranz an der Tür.
    «Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie vor mehr als einem Monat zu ihrer Reise aufgebrochen ist. Komisch, dass sie noch nicht zurückgekommen ist. Sie kann doch nicht wochenlang in der Schule fehlen. Zwischendurch waren zwar Skiferien,

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