Sag mir, wo die Mädchen sind
Gerede finnischer Rassisten abgetan.
«Er hat gesagt, die Jungen hätten schon zwei Schwestern verloren. Ayan sei ihnen wichtig, sie hätten überall nach ihr gesucht, in der näheren Umgebung und am Weg zur Arbeit, sie hätten jede Bushaltestelle und das Gelände rundherum abgesucht», berichtete Koivu. «Aufgrund von Gerüchten im Internet könne die Polizei doch niemanden anklagen. Ich denke, Ville und ich knöpfen uns die Jungen morgen mal vor, oder?» Koivus Stimme hallte im Treppenhaus wie in einer Kirche. Hinter einigen Wohnungstüren hörte ich Musik und Kindergeschrei. Bei der miserablen Schallisolierung hatten die Nachbarn es vermutlich mitbekommen, wenn es in Ayans Familie gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben hatte. Doch wir klingelten an keiner Tür, sondern gingen hinaus auf den Hof. Im Schnee spielten etwa zehn Kinder, meiner Schätzung nach alle noch nicht im Schulalter. Es gab ein reiches Spektrum an Hautfarben. Die Mütter der Kinder standen vor dem Haus und unterhielten sich, wobei sie mitunter die Gebärdensprache zu Hilfe nahmen. Ich trat zu ihnen, stellte mich vor und fragte, ob sie etwas über Ayans Verschwinden wüssten.
«Wird sie vermisst?», fragte eine der hellhäutigen Mütter. «Ich habe sie tatsächlich seit einer ganzen Weile nicht gesehen. Sie war manchmal als Babysitterin bei uns, wenn meine Schwester keine Zeit hatte. Ist ihr etwas zugestoßen?»
«Das wissen wir noch nicht. Hat es in Ayans Zuhause Streit gegeben? Hat jemand von Ihnen etwas gehört?»
Auf meine Frage folgte Stille. Dann wandte sich eine der dunkelhäutigen jungen Frauen mit Kopftuch an eine andere, gleichartig gekleidete Frau und fragte etwas in einer Sprache, die ich für Somalisch hielt. Die andere antwortete in derselben Sprache. Der lebhafte Wortwechsel endete mit einem Kopfschütteln.
«Amina kann nicht so gut Finnisch und wusste nicht, was Streit bedeutet. Sie wohnt direkt neben Ayan. Kein Streit, sie sind eine sehr ruhige Familie. Aber einsam, haben selten Besuch. Deshalb tun sie uns ein bisschen leid.»
Die zweite Somalierin nickte zustimmend. Die Frau, die Ayan als Babysitterin beschäftigt hatte, stellte weitere Fragen und wunderte sich, dass sie weder in der Zeitung noch im Internet etwas über den Fall gelesen hatte.
«Furchtbar, wenn sie hier irgendwo tot aufgefunden würde! Im Müllcontainer zum Beispiel. Oder wenn die Kinder sie entdecken. Sie liegt doch nicht etwa unter einem Schneehaufen?» Sie wirkte beinahe hysterisch.
«Sicher nicht. Aber melden Sie sich bei der Espooer Polizei, wenn Sie etwas Auffälliges hören oder sehen. Die Zentrale wird Sie mit mir verbinden.»
Während Koivu einige Meter entfernt auf seinem Handy herumtippte, war Puupponen bei den Kindern stehen geblieben, die eine Schneeburg bauten. Er hatte keine Kinder und auch nie erwähnt, dass er sich eine Familie wünschte. Natürlich hatte er im Kollegenkreis allerlei Frotzeleien über sein Singledasein und Spekulationen über seine sexuelle Orientierung zu hören bekommen, doch er nahm diese Bemerkungen, wie das Leben überhaupt, mit Humor. Jetzt lächelte er ein kleines Mädchen an, dessen schwarze Locken unter einer rosa Skimütze hervorlugten. Die Kleine konnte sich kaum auf den Beinen halten, fiel immer wieder in den Schnee, kämpfte sich aber jedes Mal entschlossen wieder hoch.
«Die hat das Zeug zur Polizistin», sagte Puupponen. «Landet immer wieder auf dem Hintern und gibt trotzdem nicht auf.»
«Maria!», rief Koivu mir zu. «Wollen wir nachsehen, ob bei Sara jemand zu Hause ist, wo wir einmal hier sind? Ich habe ihren Vater angerufen, aber der meldet sich nicht.»
Sara Amir war das jüngste der verschwundenen Mädchen, erst vierzehn Jahre alt. Koivu wusste, dass sie zwei ältere und zwei jüngere Brüder hatte. Die Letzteren besuchten die Grundschule ganz in der Nähe, der jüngere der großen Brüder ging in die zehnte Klasse und bemühte sich, genug Finnisch zu lernen, um an der Berufsschule aufgenommen zu werden.
«Saras Vater ist Taxifahrer, die Mutter macht eine Ausbildung zur Floristin. Die Familie ist schon seit 96 hier, die jüngeren Kinder sind in Finnland geboren. Der Vater war in Bosnien Lehrer, aber seine Ausbildung wird hier nicht anerkannt. Vielleicht ist die Mutter zu Hause.»
«Und was ist mit dem ältesten Sohn?», fragte ich, aber Koivu gab keine Antwort, sondern eilte mit langen Schritten zum Nachbarhaus. Ich folgte ihm und hörte bald auch Puupponens Schritte hinter mir.
«Ein
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