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Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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Gesicht mit Lehm.
    «Wen meinst du mit denen?», fragte Puupponen nach.
    «Fang nicht schon wieder an! Noors Verwandte natürlich. Ich hab doch die ganze Zeit gesagt, dass es einer der Männer war!»
    Auf meinem Handy traf eine SMS ein, der gleich darauf eine zweite folgte, weil die Nachricht so lang war. Liisa Rasilainen teilte mir mit, dass sich soeben eine Nachbarin der Ezfahanis bei ihr gemeldet hatte, die nicht zu Hause gewesen war, als Liisa ihre Runde durch die Nachbarschaft gemacht hatte, inzwischen aber von ihrem Mann gehört hatte, dass die Polizei wissen wollte, wer Noor am Dienstag gesehen hatte. Diese Nachbarin war am Dienstagabend kurz nach sechs Uhr nach Hause gekommen und Noor im Treppenhaus begegnet. Das Mädchen hatte geweint und kaum einen Gruß hervorgebracht.
    Ich ging kurz auf den Flur und rief Liisa an, obwohl nur einige Etagen zwischen uns lagen. Die Nachbarin, Irina Domnina, hatte sich gemeldet, sobald sie von der Klinik in Jorvi, wo sie als Krankenpflegehelferin tätig war, nach Hause gekommen war. Sie hatte ihren Mann Igor Domin, der ebenfalls Schicht arbeitete, seit Noors Tod noch nicht wieder gesehen. Als er ihr nun erzählte, dass die Polizei Noors Nachbarn befragen wollte, hatte sie sofort zum Telefon gegriffen. Ihrer Aussage nach hatte Noor die Nachbarn immer gegrüßt. Zudem hatte sie sich oft mit Irina unterhalten, wenn diese ihren Kurzhaardackel ausführte, den Noor sehr gerngehabt hatte. Am Dienstagabend war Noor jedoch in Eile und zudem tränenüberströmt gewesen. Irina Domnina war zunächst besorgt gewesen, hatte sich dann aber gedacht, dass junge Mädchen eben manchmal Kummer haben, der meist rasch wieder vergeht.
    «Jetzt macht sie sich Vorwürfe. Wenn sie Noor angesprochen hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen. Noor hätte sich eine Weile mit ihr unterhalten und wäre ihrem Mörder womöglich nicht begegnet. Ich treffe mich morgen mit Frau Domnina, denn ich kann ihre Glaubwürdigkeit besser beurteilen, wenn ich von Angesicht zu Angesicht mit ihr spreche. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass sie darauf aus ist, im Rampenlicht zu stehen, und deshalb behauptet, vielleicht die Letzte gewesen zu sein, die das Mädchen lebend gesehen hat, bevor der Mörder zuschlug.»
    «Ihre Aussage bestätigt jedenfalls die Darstellung der Ezfahanis, Noor habe die Wohnung gegen sechs Uhr lebend verlassen.»
    «Ja. Eigentlich hätte es um diese Tageszeit noch mehr Augenzeugen geben müssen. In dem Gebiet wohnen viele Leute, trotzdem haben wir ziemlich wenig Hinweise bekommen. Natürlich könnte man in den Medien einen Aufruf bringen.»
    «Das ist Ruuskanens Sache», antwortete ich und fragte gar nicht erst, ob Liisa dem Ermittlungsleiter dasselbe mitgeteilt hatte wie mir. Bei diesem Fall war ich nicht ihre Vorgesetzte.
    Als ich in den Polizeidienst eingetreten war, hatte man noch nicht damit rechnen müssen, dass ein Zeuge sich eventuell nur meldete, weil er auf Publicity oder Geld aus war. Zwar hatte es solche Fälle bereits in den achtziger Jahren gegeben, aber sie waren überaus selten gewesen. Berufsverbrecher, die hinter Gittern saßen, versuchten schon damals, sich Ruhm und Respekt zu verschaffen, indem sie in der Zeitschrift ‹Alibi› oder ähnlichen Publikationen über ihre kriminelle Laufbahn plauderten. Dagegen hätte ein Kapitalverbrechen schon sehr außergewöhnlich sein müssen, damit die Medien seiten- oder minutenlange Interviews mit Zeugen brachten. Der Mord an Kyllikki Saari, der Doppelmord in Tulilahti und die Tragödie am Bodom-See waren trotz ausufernder Zeitungsberichte ungeklärt geblieben, was den Eifer der Kriminalreporter möglicherweise gedämpft hatte. Ich erinnerte mich, dass in den achtziger Jahren manche Zeugen geradezu Angst davor hatten, ihre Namen könnten an die Öffentlichkeit gelangen. Heute hingegen mussten wir ständig geltungssüchtige Möchtegernzeugen ausfiltern. Das Schlimmste war, dass manche nicht einmal davor zurückschreckten, falsche Anschuldigungen zu erheben und stur an ihnen festzuhalten, auch wenn Polizei und Staatsanwaltschaft erklärten, der Fall sei abgeschlossen. Dabei trugen zahllose Menschen seelische Verletzungen davon. Ich hatte einmal ausgerechnet, auf wie viele Personen sich ein einziger Todesfall auswirkte, hatte aber entsetzt aufgehört, als ich bei einer dreistelligen Zahl angekommen war. Irgendwie war das andererseits auch tröstlich: Nur wenige von uns gingen aus dieser Welt, ohne Spuren zu hinterlassen.

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