Sag mir, wo die Mädchen sind
nichts von der Beziehung erfahren. Mein Mann und ich haben überlegt, ob wir uns mit Noors Familie bekannt machen sollten, aber wir hätten wohl nicht besonders viel gemeinsam. Und diese Leute fühlen sich ja unter ihresgleichen meist am wohlsten. Noor dagegen war schon sehr finnisch geworden, sie war das Musterbeispiel einer Migrantin, die für unser Land keine Last, sondern eine Bereicherung ist.»
Nach diesem Telefongespräch stellte ich eine Liste der Personen auf, die bisher ausgesagt hatten, Tuomas Soivio sei mit Noor zusammen gewesen. Sie wurde ziemlich lang. Folglich hatte Noor ihre Familie ganz offensichtlich belogen. Wer weiß, vielleicht hatte ihr das sogar Spaß gemacht. Romeo und Julia von heute, auch wenn es in diesem Fall von Romeos Seite keine Familienfehde gegeben hatte. Sicher war es für viele Eltern leichter, eine eingewanderte Schwiegertochter zu akzeptieren, als einen Schwiegersohn mit fremdem kulturellem Hintergrund. Ich wäre auch nicht eben erfreut, wenn Iida eines Tages aus Liebe zum Islam übertreten und ein Kopftuch tragen wollte.
Um zehn vor zwei saßen wir Polizisten mit der Dolmetscherin, einer etwa dreißigjährigen gebürtigen Iranerin, im großen Besprechungszimmer der Kripo, während die Ermittlungssekretärin und Lehtovuori die Kameras aufstellten. Ruuskanen erklärte der Dolmetscherin kurz, worum es ging. Sie war vereidigte Übersetzerin und vertrat unseren regulären Dolmetscher für Persisch, der erkrankt war. Sie kannte die Familie Ezfahani bereits, denn sie hatte unter anderem auf dem Arbeits- und dem Finanzamt für sie gedolmetscht, wie auch bei den Gesprächen zwischen Rahim und dessen Rechtsbeistand.
«Wir setzen Sie nur ein, wenn die Familienmitglieder sich nicht auf Finnisch ausdrücken können», erklärte Ruuskanen. «Die primäre Sprache bei dieser Vernehmung ist Finnisch.»
Ruuskanen würde die Vernehmung leiten, aber jeder von uns durfte ebenfalls Fragen stellen. Entscheidend war jedoch, die Reaktionen der Ezfahanis zu beobachten und auf eventuelle Widersprüche in ihren Aussagen zu achten. Wir sechs Polizisten sollten als eine Art menschlicher Lügendetektor fungieren.
Familie Ezfahani erschien pünktlich. Alle trugen Schwarz, nur die Hemden der Männer leuchteten weiß unter den Jacketts hervor. Die Mutter schien weiter geschrumpft zu sein, und ihre dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Der Großvater fing sofort an, hitzig auf die Dolmetscherin einzureden, die aber nur den Kopf schüttelte. Die anderen waren durch die Vielzahl der Polizisten sichtlich verwirrt und schlossen sich zu einer dichten Gruppe zusammen, in der die zierliche Mutter völlig zu verschwinden schien.
«Sie fragen, wann sie Noor Ezfahani beerdigen können», übersetzte die Dolmetscherin. «Weiß man das schon?»
«Noch nicht», antwortete Ruuskanen, was umgehend Kopfschütteln und lautes Murren auslöste, welches die Dolmetscherin zu beschwichtigen suchte. Ich kannte das Problem von meinen Gesprächen mit afghanischen Polizisten: Obduktionen erschwerten die Vorbereitung der Bestattung. Die islamische Tradition, Tote rasch zu beerdigen, war auf das Klima zurückzuführen: Als sich die religiösen Praktiken entwickelt hatten, gab es noch keine modernen Leichenschauhäuser mit sterilen Kühlfächern, in denen Tote nahezu endlos lange aufbewahrt werden konnten. Der Islam erlaubte Autopsien zur Aufklärung eines Verbrechens, aber sie durften nicht zu lange dauern. Noors Mutter wollte die Leiche ihrer Tochter waschen, wie es Brauch war. Ich erinnerte mich an die grauenvollen Geschichten, die mir Muna erzählt hatte, von Menschen, die ihre bei Bombenangriffen zerrissenen Angehörigen wuschen, weil man Toten Respekt zollen musste. Die Ezfahanis kamen aus einem Land, wo man den Tod nicht verdrängen oder aus sicherer Entfernung registrieren konnte; ob ihnen das half, über den Verlust von Noor hinwegzukommen, wusste ich allerdings nicht.
Ruuskanen ließ die Anwesenden in einer Art Kreis sitzen, doch die Platzierung der Dolmetscherin erwies sich als schwierig. Schließlich nahm sie zwischen Reza Ezfahani senior und Rahim Platz. Ich saß zwischen Rahim und Noors Mutter und bemühte mich, meine Sinne zu schärfen, zu spüren, was im Kopf meiner Sitznachbarn vor sich ging. Ruuskanen forderte die Familie auf, noch einmal über die Ereignisse am Nachmittag und frühen Abend des Dienstags zu berichten. Der Großvater begann, und er bat die Dolmetscherin, seine Worte zu übersetzen. Er sprach
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