Sag mir, wo die Mädchen sind
fest. «Ich soll dort nächsten Monat über die Arbeit der Jugendpolizei sprechen.»
«An welchem Abend? Sag dann bloß keinem, dass du mich kennst!»
«Total blöd, dass Jungen da nicht reindürfen», beschwerte sich Taneli. Über dieses Thema hatten wir schon öfter gesprochen. Als die Stadt Espoo im vorigen Frühjahr beschlossen hatte, sie könne es sich nicht leisten, das Projekt Mädchenhaus zu finanzieren, war die pensionierte Kommerzienrätin Sylvia Sandelin wütend geworden und hatte öffentlich erklärt, dann werde sie persönlich die Kosten übernehmen. Sie hatte dem Buchhaltungsbüro im Erdgeschoss eines Etagenhauses in Tapiola, dessen Miteigentümerin sie war, gekündigt und die Räume in ein nur für Mädchen zugängliches Jugendzentrum umgewandelt. Außerdem bezahlte sie die beiden festangestellten Mitarbeiterinnen und die Leiterinnen einiger AG s und verbrachte auch selbst viel Zeit mit den Mädchen. Die siebzigjährige, elegante und gepflegte Frau war ein ungewöhnliches Vorbild für junge Mädchen, aber Iida fand Frau Sandelin richtig cool. Der Club arbeitete nach einem ähnlichen Konzept wie das Mädchenhaus in der Nachbarstadt Helsinki. Antti und ich waren froh, dass Iida nach dem Eiskunstlauf eine neue Freizeitbeschäftigung gefunden hatte.
«Sind eigentlich die Schreihälse noch mal im Club aufgetaucht?», fragte Anu, als die Kinder nach dem Hauptgericht wieder spielen gegangen waren. «Hat Iida irgendwas erzählt?»
«Ab und zu hängen ein paar Jungen da herum, aber die werden von Sylvia Sandelin höchstpersönlich verscheucht. Sie reagieren natürlich genauso wie Taneli, es ärgert sie, dass sie nicht reindürfen. Einige wollen nicht verstehen, dass es manche Migrantenmädchen gibt, die nur mit Mädchen zusammenkommen dürfen.»
Obwohl es schon seit zwei Generationen keine separaten Schulen für Jungen und Mädchen mehr gab, war es manchmal nötig, die Geschlechter zu trennen. Das hatte ich auch in Afghanistan gesehen. Die Eröffnung der Polizeischule lag vier Monate zurück, und bisher war die Schule noch funktionstüchtig, auch wenn die Schüler und ihre Familien bedroht worden waren. Im Januar hatten die ISAF -Truppen der Nato in letzter Minute ein Selbstmordattentat auf die Schule verhindern können. Ich hielt per E-Mail Kontakt zu meinen ehemaligen Schülerinnen, aber manchmal war die Verbindung tagelang unterbrochen. Die Mail-Adressen waren anonymisiert, sodass die Klarnamen der Polizistinnen nicht erkennbar waren.
Ich war bei meiner Arbeit auch schon in Lebensgefahr geraten, doch dabei hatte es sich um vorübergehende, von Einzelpersonen ausgehende Bedrohungen gehandelt, nicht um systematische Verfolgung. In Afghanistan hingegen waren Polizeikräfte nicht einmal durch ihren Rang geschützt: Malalai Kakar, die Leiterin einer Einheit, die Verbrechen gegen Frauen untersuchte, war im Herbst 2008 getötet worden, als warnendes Beispiel für andere Frauen.
Ulrikes Schmuck hing mir schwer am Hals, die silbernen Fichtennadeln stachen, weshalb ich mich vorsichtig bewegen musste. Vielleicht passte der Schmuck besser zu einer hochgeschlossenen Bluse. Anu räumte den Tisch ab, und Antti stand auf, um ihr zu helfen. Ich trank meinen Wein aus und wollte ebenfalls in die Küche gehen, doch Pekka Koivu drückte mich an der Schulter auf den Stuhl zurück. Zuerst dachte ich, er wolle mir nur bedeuten, dass meine Hilfe nicht gebraucht wurde, aber dann las ich in seinen Augen, dass er etwas mit mir zu bereden hatte.
«In Anttis Anwesenheit möchte ich nicht darüber sprechen, er ist immerhin Zivilist. Ich habe den ganzen Abend auf die Gelegenheit gewartet, dir zu sagen, wie sehr ich mich darauf freue, unseren ersten Fall in Angriff zu nehmen. Wir brauchen nicht lange zu überlegen, womit wir anfangen: Bis jetzt hat niemand diese Vermisstenfälle ernst genommen, obwohl es Grund genug dafür gäbe.»
«Welche Vermisstenfälle? Ich kann mich nicht erinnern, dass etwas in der Zeitung gestanden hätte.»
«Ruuskanen hält sie für unwichtig. Er ist ganz in Ordnung, aber er will keine Schwierigkeiten und vor allem kein öffentliches Aufsehen. Es geht um Folgendes: In den letzten fünf Wochen sind drei junge Migrantinnen verschwunden. In keinem Fall gibt es Hinweise auf ein Verbrechen, aber was soll sonst dahinterstecken? Die Familien behaupten, keine Ahnung vom Verbleib der Mädchen zu haben. Irgendwie stehen diese Fälle miteinander in Verbindung. Das sagt mir meine Polizistennase.»
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