Sag mir, wo die Mädchen sind
und Bewegung brauchte, ging ich zu Fuß nach Hause. Der Frost hatte die Pfützen mit einer dünnen Eishaut überzogen. In unserem Wohngebiet war es still, obwohl in fast allen Häusern Licht brannte. Nirgendwo drang Musik nach draußen, und bis auf einen einsamen Raucher auf einer Terrasse war keine Menschenseele zu sehen. Erst kurz vor unserem Haus begegnete ich einem mir unbekannten Mann mit Hund. Als ich auf die Haustür zuging, fuhr ein Taxi vor. Mein Vater kam von seiner Feier zurück. Ich blieb wartend stehen, bis er bezahlt hatte. Vor dem Haus war es glatt, und ich wusste nicht, wie feuchtfröhlich die Jubiläumsfeier gewesen war. Doch die Schritte meines Vaters ließen nicht darauf schließen, dass er zu viel getrunken hatte.
«Hallo», grüßte er mich überrascht. «Wo warst du denn um diese Zeit noch?»
«Ich musste noch mal zur Arbeit. War es ein schönes Fest?»
«Na ja, wenn man es schön findet festzustellen, dass wir alle alt geworden sind und sich unsere Reihen bereits lichten, dann war es ein schönes Fest. Die Kinder schlafen sicher schon?»
Tanelis Fenster war dunkel, aber in Iidas Zimmer brannte noch Licht. An den Wochenenden blieb sie bis Mitternacht auf, und am Montagmorgen kam sie dann kaum in die Gänge. Wahrscheinlich war das einfach Karma: Auch meine Eltern hatten mich früher vergeblich beschworen, rechtzeitig schlafen zu gehen.
«Im Taxi musste ich daran denken, wie froh ich bin, dass du nicht mehr in Afghanistan bist. Natürlich haben auch die Opfer des Anschlags Eltern, die um sie trauern, aber in meinem Alter hat man nicht mehr die Kraft, sich die Probleme der ganzen Welt aufzubürden. Die eigenen sind schwer genug», erklärte mein Vater. «Hast du ein Glas Saft für mich? Ich bin furchtbar durstig, das Essen war nämlich ziemlich salzig.»
Während ich ihm Johannisbeersaft eingoss, kam Antti ins Erdgeschoss und gesellte sich zu meinem Vater. Ich teilte Ursula per SMS mit, dass Rahim noch kein Geständnis abgelegt hatte und die Nacht in der Zelle verbrachte. Dann schaltete ich meinen Computer ein. Die Explosion in der Polizeischule in Afghanistan war auch in den finnischen Medien eine der Hauptnachrichten, die Informationen waren allerdings spärlich. Inzwischen war die Zahl der Todesopfer auf neun gestiegen, außerdem gab es immer noch Vermisste. Von meinen Schülerinnen waren keine Mails gekommen. Ich sah alle fünf Minuten nach, doch es kam nichts. Ich versuchte mir einzureden, dass das nicht unbedingt ein schlimmes Zeichen sein musste.
Als ich gerade schlafen gehen wollte, sah ich, dass an meinem stumm geschalteten Handy ein Anruf einging. Er kam vom Fernsehsender Yle, wie ich an den ersten Ziffern der Telefonnummer erkannte. Vermutlich wollte man einen Kommentar von mir, entweder über den Terroranschlag oder über Tuomas’ Gewaltakt. Momentan mochte ich über keines der beiden Themen sprechen. Antti saß vor dem Fernseher und sah sich einen Film an, der auf dem französischen Sender lief. Ich war zu müde, um ihm Gesellschaft zu leisten. Die Katzen sprangen zu mir aufs Bett. Kaum war ich eingeschlafen, schreckte ich wieder hoch, weil sie miteinander kämpften.
«Mistviecher», murmelte ich im Halbschlaf. Ich wälzte mich im Bett, fand aber keinen Schlaf mehr, sondern überlegte, ob ich den Computer noch einmal einschalten sollte. Letzten Endes begnügte ich mich damit, per Handy meine E-Mails zu überprüfen. Nichts Neues. Dagegen hatte Lauri Vala mich erneut mit einer SMS bedacht. Widerstrebend öffnete ich sie: Vielleicht wusste er etwas über meine Schülerinnen.
«An deiner Stelle würde ich meine Lebensversicherung aufstocken, Kallio. Wenn die Drogenbarone beschließen, sich für die Gründung einer Polizeischule auf ihrem Territorium zu rächen, ist niemand mehr sicher, nirgendwo. Vala.»
Sofort erinnerte ich mich an den Geruch von Sprengstoff und verbranntem Fleisch. Dieser Geruch schwebte nun über den Ruinen der Polizeischule, und es würde lange dauern, bis er verschwand. Die führenden Politiker in Finnland hatten den ganzen Herbst und Winter darüber gestritten, wie intensiv unser Land sich an der Tätigkeit der ISAF -Truppen in Afghanistan beteiligen sollte und ob wir uns im Krieg befanden oder nicht. In meiner Kindheit und Jugend hatte der Schatten des Kalten Krieges und der Angst vor Atombomben über uns gehangen. Finnland hatte damals mit der Sowjetunion einen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfeleistung, was in der Praxis
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