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Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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bedeutete, dass Finnland seinen ehemaligen Feind aus dem Zweiten Weltkrieg hätte verteidigen müssen, wäre dieser über finnisches Territorium angegriffen worden. Man hatte uns damals sogar ausdrücklich vor amerikanischen Bomben gewarnt, obwohl es in Finnland kaum etwas gab, was die Amerikaner interessieren konnte. Für sie war unser Land nur ein praktischer Puffer zwischen Ost und West.
    Im einundzwanzigsten Jahrhundert schienen die Religionen wesentlich höhere Barrieren zu bilden als die politischen Ideologien, und über allem schwebte das Bewusstsein, dass Nahrung und Wasser nicht für alle reichen würden, wenn es so weiterging wie bisher, und dass es auch in den reichen Ländern nicht möglich sein würde, allen den gewohnten Lebensstandard zu garantieren. Doch die meisten Menschen hielten sich an den bequemen Gedanken, dass die Sintflut nicht zu ihren Lebzeiten kommen würde. Dabei hatte schon meine Großmutter gewaltige Veränderungen miterlebt, die ihre Eltern sich nicht einmal hätten vorstellen können.
    Im Traum kehrte ich nach Afghanistan zurück, in das funkelnagelneue Gebäude der Polizeischule, in dem der kalte Stein und das rötlich glänzende Holz allmählich mit Teppichen, Bücherregalen und Zierrat bedeckt wurden. Schon vor meiner Reise hatte ich Fotos der verschiedenen Baustadien gesehen. Der Neubau war ein wichtiges Symbol für die Bestrebung, ein demokratisch organisiertes, unbestechliches Polizeiwesen zu etablieren, doch wichtiger als das Gebäude waren die Menschen, die dort arbeiteten. Im Traum hörte ich wieder Uzuri, die auf Pashti ihr Gedicht vortrug, doch sie wurde von einem Mädchen mit Kopftuch unterbrochen, das hereinstürmte und auf Finnisch rief:
    «Schnell raus hier, das Gebäude ist vermint!» Im Traum erkannte ich das Mädchen, es war die gebürtige Afghanin Aziza Abdi Hasan, die im Januar verschwunden war und die ich nur auf Fotos gesehen hatte. Ein fürchterliches Gepolter weckte mich, und ich wusste zuerst nicht, wo ich war, etwa in Afghanistan? Aber bald erkannte ich im Licht der Straßenlampen, das durch die Vorhänge fiel, die Umrisse unseres Schlafzimmers und hörte Antti neben mir fluchen:
    «Die verdammten Katzen kommen mir nicht mehr ins Schlafzimmer! Die toben hier rum und werfen meine Bücher vom Nachttisch! Lass uns weiterschlafen, es ist erst sechs.»
    Ich wälzte mich eine Weile herum, konnte aber nicht mehr einschlafen. Antti begann schon bald, regelmäßig zu schnaufen, und im Erdgeschoss schnarchte mein Vater so laut wie eine Motorsäge. Er hatte offenbar vergessen, den Ball, der ihn daran hinderte, auf dem Rücken zu liegen, an seinem Schlafanzug zu befestigen. Na, so konnte er wenigstens einmal in seiner Lieblingsstellung schlafen. Ich ging zur Toilette und überprüfte mein Handy. Keine SMS , aber eine E-Mail von Ursula, die sowohl an mich wie an Ruuskanen gegangen war.
    «Ich habe den Besitzer des Corolla erreicht. Er gibt bereitwillig zu, sein Auto an Rahim Ezfahani verliehen zu haben, und beteuert treuherzig, er habe geglaubt, dass Rahim einen Führerschein besitzt. Er hatte Angst vor der Polizei, oder wenigstens vor mir. Oder davor, dass ich ihn zur Sünde verleite, weil ich kein Kopftuch trage. Der Wagen ist konfisziert und auf dem Weg zur technischen Untersuchung. Honkanen.»
    Die Nachricht war um drei Uhr zweiunddreißig abgeschickt worden, Ruuskanen hatte sie noch nicht beantwortet. Da ich hellwach war, schlich ich mich in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein, holte die frischgewaschene Sportkleidung von der Leine und zog sie an. Ich trank eine Tasse Milchkaffee und joggte eine halbe Stunde in gemächlichem Tempo, eher um die Gedanken wachzukitzeln als wegen der Kondition. Nach der Afghanistanreise hatte ich ab und zu Albträume gehabt und festgestellt, dass sie sich am besten durch Bewegung an der frischen Luft vertreiben ließen. Am Horizont glühte es vielversprechend, im Lauf des Tages würde ich die Sonnenbrille brauchen. Der Winter war außergewöhnlich lang und schneereich gewesen, doch nun waren bald die ersten Huflattiche und das Zwitschern der Amseln zu erwarten. Ohne vernünftigen Anlass fühlte ich mich glücklich. Verdammt noch mal, immerhin lebte ich und war imstande zu laufen. Was spielte es da für eine Rolle, dass mein vierzigster Geburtstag schon länger zurücklag und ich meine grauen Haare färben musste.
    Meine heitere Stimmung verflüchtigte sich jedoch sofort, als ich nach Hause kam. Mein Vater war ebenfalls

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