Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
Vom Netzwerk:
Vielleicht gruben sie gerade in den Ruinen der Polizeischule nach Überlebenden oder warteten selbst auf Rettung. Meine Machtlosigkeit quälte mich.
    Ich schickte ein Stoßgebet nach oben, obwohl ich keine Ahnung hatte, an welche Gottheit ich mich wandte. Ich hätte gern an eine höhere Macht geglaubt, konnte aber nicht recht ausdrücken, was ich mir darunter vorstellte. Mitunter verachtete ich mich geradezu, weil ich eine von denen war, die sagten, sie seien schon irgendwie gläubig, aber nicht im Sinne der Kirche. Antti war überzeugter Atheist, für ihn war vollkommen klar, dass es keine Götter gab, ich dagegen sehnte mich bisweilen danach, glauben zu können, dass alles einen Sinn hatte. Terhi Pihlaja, eine Pastorin, die ich kannte, hatte mir geraten, nicht alles analysieren zu wollen. Glaube und Zweifel schließen einander nicht aus, hatte sie gesagt. Im Zweifeln war ich jedenfalls gut.
    Himanen und der lange Polizist saßen mit Rahim im Besprechungsraum der Kriminalabteilung. Einer der beiden hatte die Kaffeemaschine in Gang gesetzt, es roch nach billigem Kaffee und zu selten gespültem Kocher. Der Lange mühte sich mit den Handschellen ab.
    «Bin unter die Metallarbeiter gegangen», sagte er grinsend. «Die Sache ist doch nicht so einfach, wie ich dachte. Den einen Armreif kriege ich mit dem Ding hier auf, aber für den anderen brauchen wir eine Zange. Es muss schnell gehen, die Hände haben kaum Blutzufuhr. Mikkola holt gerade das Werkzeug.»
    Rahim war nach wie vor auffällig blass, er saß mit geschlossenen Augen da und murmelte vor sich hin. Der lange Polizist befreite das eine Handgelenk von der Fessel. Das Metall hatte in die Haut geschnitten und eine dunkelrote Schürfwunde hinterlassen, die stellenweise blutete. Sie musste desinfiziert und verbunden werden. Aus alter Gewohnheit ging ich in die Ecke des Raums, in der sich früher das Medizinschränkchen befunden hatte, doch es war nicht mehr da.
    «Wo finde ich Pflaster, Verbandmull und Desinfektionsmittel?», fragte ich Himanen.
    «In der Zellenabteilung gibt’s das auf jeden Fall, soll ich es holen?»
    «Ja, bitte. Anschließend kannst du weiter Streife fahren, mit dem jungen Mann hier komme ich schon zurecht. Rahim, möchtest du Kaffee oder etwas anderes zu trinken? Musst du irgendwem mitteilen, dass du hier bist?»
    Er reagierte nicht. Meine Kopfschmerzen wurden allmählich stärker, ich hätte Himanen bitten sollen, mir eine Tablette mitzubringen. Mikkola kam mit einem Bolzenschneider herein, den er seinem Kollegen reichte. Dieser schien die Situation zu genießen. Er wies Mikkola an, Rahims Arm festzuhalten, und begann dann, den beweglichen Teil der Handschelle aufzubrechen. Das war nicht leicht, weil das Metall die Haut dicht umschloss. Rahim öffnete die Augen. Beim Anblick des Bolzenschneiders wich auch der letzte Rest Farbe aus seinem Gesicht.
    «Nicht abschneiden!», schrie er unvermittelt und so laut, dass der Lange beinahe die Zange fallen gelassen hätte.
    «Es muss sein. Sonst kriegen wir die nicht ab.»
    «Nicht meine Hand, ich bin kein Dieb!»
    «Rahim, in Finnland hackt man Dieben nicht die Hand ab», sagte ich rasch. Ich hätte hinzufügen können, das gelte zumindest für die Polizei, denn einige kriminelle Organisationen hatten sich den barbarischen Brauch zu eigen gemacht, Diebe zu verstümmeln. Mit Mördern taten sie noch Schlimmeres.
    Obwohl meine afghanischen Schülerinnen aufgeklärte Menschen waren, hatte ich mich gezwungen gesehen, mit einigen von ihnen rechtsphilosophische Gespräche über die Legitimität und Angemessenheit von Strafen zu führen. Ich erinnerte mich an eine Diskussion, in deren Verlauf Ulrike Müller gesagt hatte, sie habe bei Saddam Husseins Hinrichtung geweint. Nicht wegen Saddam Hussein, der ein durch und durch verrotteter Schurke war, hatte sie erklärt, sondern vor Scham darüber, dass wir, indem wir die Hinrichtung zuließen, auf das gleiche gnadenlose Niveau herabgesunken waren wie er. Im einundzwanzigsten Jahrhundert durfte das Prinzip Auge um Auge keine Gültigkeit mehr haben, auch wenn viele die Strafen, die in Finnland verhängt wurden, für zu mild hielten.
    Der lange Polizist hatte es immer noch nicht geschafft, die Handschelle zu öffnen, und griff nun zur Eisensäge. Als Himanen mit dem Verbandszeug zurückkam, begann ich, die Wunden an Rahims freiem Handgelenk zu reinigen und zu verbinden. Der junge Mann saß vollkommen passiv da, er schien in seine eigene Welt versunken zu sein. Ab und zu

Weitere Kostenlose Bücher