Sag mir, wo die Mädchen sind
während Jennas Blick vom einen zum anderen wanderte. Schließlich trat Puupponen auf Jenna zu und umarmte sie. Koivu schloss sich an, dann folgte ich und zuletzt Puustjärvi, der Pertti Ström nicht so lange gekannt hatte wie wir anderen. Bei Ström hatten wir alle Fehler gemacht, und er selbst hatte jeden von uns gleichermaßen beschissen behandelt. Bei seiner Tochter würde das anders sein. Das waren wir seinem Andenken schuldig.
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I ch hatte Sylvia Sandelins Einladung zum Mittagessen auch deshalb angenommen, weil ich über einige Besucherinnen des Mädchenclubs mehr erfahren wollte. Eine von ihnen war ermordet, eine andere in ihre ehemalige Heimat zurückgeschickt worden, und zwei waren weiterhin verschwunden. Wurde die multikulturelle Tätigkeit des Clubs mit dem Ziel, die Mädchen zu selbständigem Denken zu ermutigen, von manchen Migranten als bedrohlich empfunden? Zwar kannten Heini und Nelli die Besucherinnen wahrscheinlich besser, aber die Idee des Clubs stammte von Sylvia Sandelin, und sie finanzierte seine Tätigkeit.
Ich fuhr mit dem Bus nach Tapiola, stieg an der Haltestelle unter dem Kaufhaus Stockmann aus und ging am Parkplatz, dem Hotel und der Kirche vorbei in den ältesten Teil der Siedlung, der an der Bucht Otsolahti lag. Der Mädchenclub lag nur einige hundert Meter von Sylvia Sandelins Haus entfernt. Riesige Bäume säumten den Straßenrand. Bei den Bunkern an der Bucht hatte Antti, dessen Familie ganz in der Nähe gewohnt hatte, als Kind am liebsten gespielt. Seine Freunde und er hatten mit Holzgewehren um die Bunker gekämpft, dennoch hatte er später den Wehrdienst verweigert. Jungen in Tanelis Alter führten in den Wäldern Krieg mit Softball-Pistolen, und die etwas älteren Jungen und Mädchen befriedigten ihre Lust am Geballer im Internet. In meiner Kindheit waren Kriegsspiele verboten gewesen, aber die Abenteuerlustigsten hatten notfalls eine Scheibe Knäckebrot zur Pistole zurechtgebissen. Vermutlich waren Angriff und Verteidigung tief in unserem Erbgut verankert, doch vielleicht würde es eines Tages gelingen, das Hass-Gen zu lokalisieren und unschädlich zu machen.
Sylvia Sandelin bewohnte eines der prachtvollsten Gebäude an der Bucht. Mit über zweihundert Quadratmetern für eine Person war das Haus mehr als geräumig. Ich erinnerte mich, dass zur Zeit der Gründung des Mädchenclubs gestichelt wurde, natürlich werde die reiche Alte keine halbwüchsigen, womöglich diebischen Mädchen in ihr Haus lassen, obwohl sie doch Platz genug hätte. Als ich auf die Klingel drückte, ertönten die ersten Takte aus dem Radetzky-Marsch von Johann Strauß dem Älteren. Ich erkannte die Melodie, weil wir in meiner Kindheit am Neujahrstag immer vor dem Fernseher gesessen hatten, wenn das Konzert der Wiener Philharmoniker übertragen wurde.
Sandelin öffnete mir die Tür. Sie trug ein uniformartiges dunkelgraues Kostüm und Lackschuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen in der gleichen Farbe. Ihre Frisur saß wieder perfekt; vielleicht ging sie jeden Morgen in den Frisiersalon in der Nachbarschaft und ließ sich zurechtmachen. Meine Haare dagegen hatte der Märzwind zerwuschelt, ich hätte so vorausschauend sein sollen, sie zum Pferdeschwanz zu binden. Im Flur zog ich die Schuhe aus, denn ich fürchtete, der Streusand an den Sohlen würde auf dem blankpolierten Parkett und den luxuriösen hellen Teppichen Spuren hinterlassen.
«Herzlich willkommen, Kommissarin Kallio. Hier können wir uns in Ruhe unterhalten. Hast du irgendwelche Allergien?»
«Nein.»
«Eine Seltenheit. Wenn man heutzutage ein Dinner für zwölf Personen plant, hat man Schwierigkeiten, ein Menü zusammenzustellen, das alle essen dürfen. Eine Plage ist das! Andererseits haben manche meiner Mädchen sich fast ihr ganzes Leben lang nur von Maisbrei oder Maniok ernährt, weil ihre Väter meinen, Mädchen bräuchten wenig Nahrung. Und trotzdem werden diese unterernährten Zwölfjährigen schwanger. Aber es würde ihnen nichts helfen, wenn ich für den Rest meines Lebens nur noch Haferbrei und Möhrensuppe zu mir nähme, also wollen wir unseren Lunch genießen. Mojca hat im Saal gedeckt, dort gibt es mehr Licht als im Speisezimmer, und Licht brauchen wir nach dem langen Winter wirklich und wahrhaftig.»
Ich folgte Frau Sandelin in einen etwa sechzig Quadratmeter großen Raum mit einem wandbreiten Fenster zum Meer. Das Eis auf der Bucht war dunkel und vermutlich schon dünn, aber etwa dreißig Meter vom
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