Sag mir, wo die Mädchen sind
werden.»
«Genau. Ich habe mit Noor gesprochen, als sie das nächste Mal zum Mädchenclub kam. Ihre Antwort war vollkommen klar. Sie wollte Rahim auf keinen Fall heiraten und überhaupt mit der Ehe noch mehrere Jahre warten. Sie träumte davon, das Abitur zu machen und danach Medizin zu studieren, am liebsten Gynäkologie, und dann wollte sie in den Iran zurückkehren und den Frauen helfen, die nichts von Verhütung wissen und im Kindsbett sterben.»
Frau Sandelin hatte sich Noors Sache zu eigen gemacht und die Ezfahanis durch Hinweise auf Paragraphen und das Jugendamt davon überzeugt, dass Noor von den Behörden in Gewahrsam genommen würde, wenn die Familie sie am Schulbesuch hinderte. Sie wurde rot, als sie mir erzählte, sie habe den Ezfahanis «ein kleines Geldgeschenk» angeboten, als Gegenleistung dafür, dass ihre Ratschläge befolgt wurden.
«Ich habe den jungen Männern in der Familie gesagt, sie sollten sich an Noor ein Beispiel nehmen, eine Berufsausbildung machen und richtig Finnisch lernen, worüber sie augenscheinlich beleidigt waren. Dann habe ich erklärt, über Dinge, die Noor betreffen, würde ich nur mit ihren Eltern sprechen, wie es in Finnland üblich ist.»
Tuomas Soivio und Noor hatten schon Anfang Oktober zueinander gefunden, bald nach dem Beginn des neuen Schuljahres. Frau Sandelin hatte von der Beziehung erstmals durch Tuomas’ Großmutter erfahren, die ihren Enkel mit der atemberaubend schönen Iranerin im Café des Kaufhauses Stockmann in Tapiola gesehen hatte.
«Aila war zuerst verblüfft, meinte dann aber, so ist das wohl heute. Allerdings hat sie sich ein wenig an dem Kopftuch des Mädchens gestört. Sie selbst hatte nämlich geschworen, nie wieder ein Kopftuch zu tragen, sobald sie volljährig wurde und die Eltern ihr nichts mehr vorschreiben konnten – das war irgendwann Anfang der fünfziger Jahre in Finnland. Ich habe dann schnell herausgefunden, dass es sich bei dem jungen Mädchen um Noor handelte. Eigentlich bin ich sehr für Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, denn dadurch lernen wir einander verstehen, aber in Noors Fall habe ich damals schon Böses geahnt, und nun haben wir es. Noor lebt nicht mehr.»
Sylvia Sandelin führte die Serviette an die Augen, eine Geste, die einstudiert und dennoch echt wirkte. Ihr Eyeliner war nicht wasserfest, der blaue Lidstrich unter den Augen verschwamm und setzte sich in den feinen Fältchen auf den Wangen ab.
«Es schickt sich nicht, am Esstisch zu weinen, aber ich vermute, als Polizistin erlebst du weinende Menschen in den verschiedensten Situationen. Dass ein Leben so vergeudet wird! Ich hätte meinem Instinkt folgen und Noor bitten müssen, hier einzuziehen. Aber ich war so egoistisch, ich wollte meine Ruhe haben. Mojca wohnt in der Otsolahdentie sechzehn, wo ich einige kleine Wohnungen besitze. Ich habe nie daran gedacht, mit einem anderen Menschen unter einem Dach zu leben, aber in Noors Fall hatte ich das Gefühl, ich müsste es tun.»
Der eine Angler ging über das Eis auf die Brücke zu, der andere fuchtelte mit den Armen, als versuche er, ihn aufzuhalten. Unter der Brücke herrschten Strömungen, die das Eis brüchig machten, es war völlig idiotisch, dorthin zu gehen.
«Selbst wenn Noor hier eingezogen wäre, hättest du sie nicht rund um die Uhr bewachen können. Gegen manche dieser rachsüchtigen Männer hilft einfach nichts, kein Annäherungsverbot, nicht einmal das Gefängnis. Du hast gesagt, du möchtest mich treffen, damit wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir mit den jungen Mädchen im Club über Noors Schicksal sprechen sollen. Ich finde, wir sollten die Gelegenheit unbedingt nutzen, um alle Mädchen aufzufordern, es weiterzusagen, falls sie bedroht werden. Ich habe früher bei einem Projekt zur Verhinderung von Gewalt in der Familie mitgearbeitet. Wie wir dort festgestellt haben, kann allein schon die Tatsache, dass ein bedrohter Mensch in seiner Notlage nicht alleingelassen wird, ihm helfen und ihm die Kraft geben, sich zur Wehr zu setzen. Aber gegen die schlimmsten Typen ist man machtlos, solange sie frei herumlaufen.»
«Ist Rahim so einer? Wird er wieder töten?»
«Wer weiß. Der Gefängnisaufenthalt wird für ihn nicht angenehm sein, und Hass potenziert sich.»
Der zweite Eislochangler lief nun hinter dem ersten her. Ich hatte meine Schuhe im Flur gelassen, und an der Terrassentür standen keine Gartenschuhe, die ich notfalls anziehen konnte, wenn das Eis tatsächlich
Weitere Kostenlose Bücher