Sag mir, wo die Mädchen sind
Per E-Mail war eine Mitteilung der bosnischen Polizei eingetroffen. Die dortigen Kollegen hatten Sara Amir befragt, die keinen Pass besaß, aber zugegeben hatte, dass ihr letzter Wohnsitz in Finnland gewesen war. Der E-Mail waren einige Fotos von einem Mädchen beigefügt, das ein Kopftuch trug und verschüchtert wirkte; es hatte große Ähnlichkeit mit der Sara Amir, von der ich bereits einige Bilder gesehen hatte. Wir mussten mit ihren Familienangehörigen sprechen. Wenn sie beschlossen hatten, Sara gegen ihren Willen nach Bosnien zu schicken, war eher der Jugendschutz zuständig als die Polizei. Glücklicherweise war das Mädchen wenigstens noch am Leben.
Im Nebenraum polterte Puupponen so laut herum, dass ich neugierig wurde. Ich ging hinüber, um nachzusehen, was dort vor sich ging. Bei der Gelegenheit konnte ich auch gleich Saras Fotos ausdrucken und aufhängen.
«Tach, Maria. Hast du die schon gesehen? Zum Teufel mit den Kamerahandys!» Er warf mir eins der beiden Boulevardblätter zu. Obwohl das Foto unscharf war, konnte man den an einen Baum gefesselten Rahim erkennen, über dessen Augen allerdings ein schwarzer Balken lag. Die Profile von Himanen, Sutinen und mir waren stark verschwommen.
«Auf YouTube gibt es angeblich auch ein Video. Verdammt noch mal, da sehnt man sich doch nach der guten alten Zeit zurück, als noch anonyme Briefe aus Zeitungsbuchstaben zusammengeklebt wurden. Offenbar hat niemand Soivio verboten, mit der Presse zu sprechen. Das heißt, in den Interviews führt sein Anwalt das große Wort.»
«Für die Sache sind wir nicht mehr zuständig, Ruuskanen leitet die Ermittlungen. Konzentrieren wir uns jetzt auf das, was die bosnischen Kollegen festgestellt haben. Wir besuchen die Amirs, Saras Familie. Koivu, stellst du mal fest, ob sie zu Hause sind? Dann …»
Mein Diensthandy klingelte. Da mir die Nummer bekannt vorkam, meldete ich mich.
«Guten Morgen, Kommissarin Kallio, Sylvia Sandelin hier. Ich hätte etwas mit Ihnen zu besprechen. Könnten wir uns heute treffen, zum Beispiel zu einem kleinen Lunch bei mir zu Hause?»
«Worum geht es denn?»
«Das kann sich die Kommissarin sicher denken. Um Noor Ezfahani. Ich würde gern darüber reden, was wir den Mädchen im Club erzählen sollen, was die Polizei uns empfiehlt. So etwas darf nicht noch einmal passieren, meine Mädchen müssen sie selbst sein dürfen.» Frau Sandelins Stimme klang erregt und brüchig, als hätte sie vor dem Telefonat heftig geweint.
«Ich habe alle Hände voll zu tun», begann ich, machte mir im nächsten Moment aber klar, dass ich meine eigene Herrin war und Koivu und Puupponen zu Sara Amirs Familie schicken konnte. Dieses Treffen war ich Frau Sandelin schuldig, und nicht nur ihr, sondern auch dem Mädchenclub und Iida, die ebenfalls die Schlagzeilen lesen und mir böse sein würde, weil ich ihr nicht alles erzählt hatte. «Aber gegen ein Uhr ginge es. Bewirtung ist nicht nötig.»
«Es ist viel angenehmer, in Gesellschaft zu speisen. Die Adresse lautet Otsolahdentie fünf C, in Ufernähe. Herzlich willkommen.»
Koivu hing bereits am Telefon, während Puupponen immer noch im Internet surfte und beim Lesen stöhnte. Der Drucker spuckte Saras Fotos aus. Ich dachte an die Antibabypillen in ihrer Schublade. Hatte man sie deshalb weggeschickt? Die frühesten finnischen Filme erzählten noch von Bauernmädchen, die im Sündenbabel der Städte in Verderbnis gerieten oder als Magd auf einen Gutshof gingen und vom skrupellosen Sohn des Hauses verführt wurden. Inzwischen war Sex längst zu einem banalen Zeitvertreib geworden, der mit Gefühlen am besten nichts mehr zu tun haben sollte. Wie reagierten Menschen, die daran gewöhnt waren, alles zu verhüllen, auf diese veränderte Welt?
Während mir solche Gedanken durch den Kopf gingen, wurde die Tür zu unserem Ermittlungsraum aufgerissen, und Puustjärvi steckte den Kopf herein. «Guten Morgen! Darf ich vorstellen: die neue Praktikantin im Gewaltdezernat, Polizeianwärterin» – er schob die junge Frau herein – «Jenna Ström!»
Er schloss die Tür hinter sich, und wir vier bildeten einen Kreis um Jenna, die uns verwundert anblickte. Puustjärvi grinste verschmitzt, als er Koivus Verwirrung und den Funken des Begreifens in Puupponens Augen sah.
«Wir vier waren Kollegen deines Vaters, der Rotschopf hier ist Ville Puupponen und der hübsche Blonde heißt Pekka Koivu», sagte ich. «Herzlich willkommen, Jenna.»
Wir standen eine Weile schweigend da,
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