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Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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den Mietvertrag noch nicht gekündigt hatte. Der Mann schloss die Wohnungstür auf und sah uns neugierig an.
    «Suchen Sie nach Leichen, oder warum sind Sie so ausstaffiert?»
    «Sie gehen jetzt bitte, damit Sie hier keine Spuren hinterlassen», sagte Assi Haatainen bestimmt, ließ mich zuerst eintreten, folgte mir und knallte dem Mann die Tür vor der Nase zu.
    Die Zweizimmerwohnung war in ähnlichem Stil eingerichtet wie die Privaträume, die ich in Afghanistan gesehen hatte: viele Teppiche, Wandbespannungen, niedrige Sofas und Tische, hier allerdings ohne Tischdecken. Es gab kein einziges Bett, die Schlafmatten waren ordentlich aufgerollt. In der Küche stand ein wenig Geschirr, doch im Badezimmer gab es keinerlei Hygiene-Artikel. Die Kleiderschränke waren leer. Assi saugte die Teppiche ab, um Haare und Fasern sicherzustellen. Ich warf einen Blick in die Besenkammer, die nur einen einsamen Teppichklopfer und eine fast leere Packung Waschpulver enthielt. Der Kühlschrank war ausgeschaltet, die Tür stand offen, im Innern roch es nach Zitrone. Im Speiseschrank entdeckte ich nur einige Teebeutel, ein ungeöffnetes Paket Reis und eine Dose Tomatenmark. Das Geschirr beschränkte sich auf einen zerdellten Kochtopf, ein stumpfes Brotmesser und ein paar bunte Plastikbecher, die nach Ikea aussahen.
    Der Kleiderschrank im Schlafzimmer enthielt ein Paar zerschlissene Turnschuhe in Männergröße und eine einzelne schwarze Socke. Im zweiten Schrank lag ein Fußball. Sonst nichts. Entweder lebte Azizas Familie außerordentlich spartanisch, oder sie hatte tatsächlich nicht vor, nach Finnland zurückzukehren. Ziergegenstände, Fotos oder Bücher waren nirgendwo zu sehen. Die Wohnung wirkte wie ein Hotelapartment, in dem jemand ein paar überflüssige Dinge zurückgelassen hatte.
    Assi machte Fotos und nahm die Teppiche sorgfältig unter die Lupe, suchte mit dem Spektrometer nach Blutflecken und DNA -Spuren. Durch das Fenster des größeren Zimmers sah ich das Haus, in dem Koivu mit seiner Familie wohnte. Wo war Aziza, wo war ihre Familie, zog da wieder eine kleine Gruppe von Menschen durch Europa, ohne irgendwo Wurzeln zu schlagen? Vielleicht wurden sie in der Provence oder in Sizilien mit gefälschten Papieren aufgegriffen oder irgendwo bei Hamburg als Schwarzarbeiter beschäftigt. Womöglich würden sie versuchen, in ihr Heimatland zurückzukehren, obwohl ein Menschenleben dort weniger wert war als das zweite Album von Lordi bei Internet-Auktionen. Wahrscheinlich würde ich nie erfahren, was mit ihnen geschah.
    Mordermittlungen waren trostlos genug, doch mehr als fünfundneunzig Prozent aller Kapitalverbrechen wurden aufgeklärt, sodass man in gewisser Weise einen Schlussstrich darunter ziehen konnte, auch wenn ein gewaltsamer Todesfall das Leben derjenigen, die damit in Berührung gekommen waren, wohl für immer überschattete. Bei Vermissten, die nicht aufgefunden wurden, fehlte dieser Schlussstrich. Nach zehn Jahren wurden sie für tot erklärt, doch wenn Azizas Familie diesen Punkt erreicht hatte, würde fast jeder sie vergessen haben, wahrscheinlich auch ich. Dennoch fühlte ich mich auf seltsame Weise verantwortlich für die Familie, obwohl uns nichts verband außer der Tatsache, dass sie aus dem Land, für dessen demokratischen Aufbau ich mich eingesetzt hatte, in meine Heimatstadt gezogen war.
    Da Koivu anderweitig beschäftigt war, setzte ich mich mit dem Jugendamt in Verbindung und erkundigte mich bei der bosnischen Polizei, ob es möglich sei, Sara per Videoschaltung zu befragen. Ich zweifelte nicht an der Kompetenz der dortigen Kollegen, hätte aber gern gewusst, ob Sara in Bosnien wirklich glücklich war oder nur wiederholte, was man ihr eingeschärft hatte. Ich dachte an die Antibabypillen, die wir in ihrem Schrank gefunden hatten, und an Tommi, mit dem sie nur einen einzigen Abend verbracht hatte. Hatten Saras Eltern die Beziehung zu ernst genommen? Schließlich zwang ich mich aufzugeben. Das Jugendamt würde die Polizei gegebenenfalls um Amtshilfe bitten.
    Bei einem der Fälle familiärer Gewalt, die sich am Donnerstag ereignet hatten, handelte es sich um eine tätliche Auseinandersetzung zwischen einem dreißigjährigen Mann, der noch bei den Eltern wohnte, und seiner etwa zehn Jahre jüngeren Schwester, die bereits allein lebte: Die Schwester hatte sich auf ihren schlafenden Bruder gestürzt und versucht, ihn mit einem Kissen zu ersticken. Ruuskanen und ich einigten uns darauf, dass es sich um einen

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