Sag mir, wo die Mädchen sind
untypischen Fall handelte, weshalb ihn meine Zelle übernehmen sollte. Die Angreiferin lag zurzeit, durch starke Medikamente ruhiggestellt, im Krankenhaus. In meinem Kopf schrillten längst die Alarmglocken, denn einiges deutete darauf hin, dass Inzest das Motiv für den Angriff war. Weder Täterin noch Opfer waren vorbestraft. Der Bruder hangelte sich von einem Kurzzeitjob zum nächsten. Von seiner Schwester hieß es, sie habe sich als Teenager häufig Schnitte an den Armen zugefügt. Sie machte eine Ausbildung zur Krankenpflegerin und hatte gerade am Psychologiekurs teilgenommen. Die etwa sechzigjährigen Eltern konnten sich die Tat überhaupt nicht erklären. Mit diesem Fall wollte ich mich allerdings erst nach dem Wochenende beschäftigen.
Am Freitag stand ich am frühen Abend in der Küche. Antti war mit Freunden zum Schwimmen gegangen, daher war ich für das Kochen zuständig. Meinem Vater ging es bereits etwas besser, aber er war noch lange nicht reisefähig. Meine Mutter telefonierte mindestens dreimal täglich und hatte vor, in der nächsten Woche zu uns nach Espoo zu kommen. Vielleicht konnte mein Vater in ihrer Begleitung mit dem Flugzeug nach Hause zurückkehren; die Zugfahrt war zu anstrengend, denn Liegewagen verkehrten auf der Strecke nicht mehr. Auch in dieser Hinsicht schritt die Entwicklung voran. In meiner Studienzeit war ich vorzugsweise mit dem Nachtzug gefahren, um Zeit zu sparen, obwohl ich am nächsten Tag wie benommen herumgelaufen war.
Ich wollte es mir leicht machen und eine Soße aus dem Bio-Lammgehackten zubereiten, das Antti über einen Kollegen bekommen hatte. Ich nahm gerade die Schalotten aus dem Schrank, da klingelte mein Diensthandy. Das Display zeigte Heini Korhonen an, und da ich nicht glaubte, dass sie grundlos anrief, meldete ich mich.
«Kallio.»
Eine Weile war nur ein seltsames, fernes Rauschen zu hören. Dann stammelte eine weinerliche Stimme: «Heini hier … Heini Korhonen vom Mädchenclub. Ist das Kommissarin Maria Kallio, die Mutter von Iida Sarkela?»
«Ja.»
«Ich bin bei mir zu Hause … in Hakalehto.» Heini nannte mir die Adresse. «Ich bin vergewaltigt worden.»
«Wo und wann? Wer ist der Täter?»
«Gerade eben, hier in meiner Wohnung. Der Täter sitzt da in der Ecke. Es ist Samir Amir, Sara Amirs Bruder. Kann die Polizei kommen und ihn hier wegholen?»
Früher hatte Heini stets kühl und beherrscht gewirkt, doch nun klang ihre Stimme schrill wie die eines kleinen Mädchens. Natürlich wusste sie, wie eine Frau sich nach einer Vergewaltigung verhalten musste, sie hatte den Besucherinnen des Mädchenclubs immer wieder Vorträge darüber gehalten, doch sie schien unter Schock zu stehen, denn sie hatte nicht die Notrufzentrale angerufen, sondern mich.
«Bleib dran. Ich alarmiere mit dem Privathandy einen Streifenwagen.» Mit der freien Hand drückte ich die Schnelltaste für den Notruf. Mein Vater lag auf dem Fußboden und sah mich an wie ein lebendes Fragezeichen, aber er konnte mir jetzt nicht helfen. Die Kinder waren zum Glück in ihren Zimmern. Ich schaltete mein Diensthandy auf Lautsprecher, um zu hören, was bei Heini passierte. Es dauerte viel zu lange, bis die Zentrale sich meldete, dabei vergingen nicht einmal zehn Sekunden.
«Maria Kallio von der Espooer Polizei. Mir wurde gerade eine Vergewaltigung gemeldet, schickt eine Streife in die Hakarinne 6 M 675 . Der Täter ist noch in der Wohnung, das Opfer ebenfalls. Ja, die Meldung kam direkt an mich, weil das Opfer eine Bekannte von mir ist. Ich fahre auch hin. Wahrscheinlich wird auch ein Krankenwagen gebraucht. Der Täter ist ein bosnischer Migrant mit schweren psychischen Problemen.»
Ich sah auf die Uhr. Antti hatte versprochen, um sechs zum Essen zu kommen, bis dahin war es noch eine halbe Stunde. Meine Familie würde nicht verhungern, es war auch noch Brot und Obst da. Ich sagte Heini, eine Polizeistreife sei unterwegs, ich würde auch kommen und sie solle am Telefon bleiben. Dann erinnerte ich sie noch daran, dass sie sich vor der ärztlichen Untersuchung nicht waschen und nicht umziehen durfte. Ich war selbst einmal in dieser Situation gewesen und hatte danach wochenlang hysterisch meinen Körper und meine Zähne geschrubbt, um mich auch von den letzten Zellresten des Täters zu befreien. Aber Beweise waren Beweise. Sperma, zerrissene Kleider und Blutergüsse zählten vor Gericht häufig mehr als die Aussage der Betroffenen.
Ich erklärte meinem Vater, dass ich überraschend zu einem
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