Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
das tust.« Er deutete mit einer entmutigten Geste auf einen alten Sessel. »Setz dich.«
»Ich will nicht …«
»Setz dich.«
Ich wandte mich von der Tür ab und ließ mich langsam in den Sessel sinken.
Er nickte langsam, als wollte er nicht nur mich, sondern auch sich selbst überzeugen. Dann seufzte er und sagte: »Also erzähle ich dir jetzt, was du glaubst, wissen zu müssen.«
12
Wir standen da und betrachteten das alte Verwalterhaus, während der kräftiger werdende Winterwind durch uns hindurchfegte, als wären wir irgendwie durchlässig geworden, so ungeschützt und verletzlich wie das offene Feld hinter uns. Der Wind fuhr in den Wald, sammelte sich unter den Baumgruppen und blies Schneeklumpen aus den Zweigen. Wie Hautschuppen fielen sie lautlos auf den Boden, wie pulvrige Schemen, die aus dem Kadaver einer Welt in die nächste flohen. Und ich beneidete sie dafür.
»Woher weißt du das?«, fragte Boone schließlich mit zitternder Stimme.
Ich sah Onkel vor mir, wie er direkt hinter einer der wenigen, noch übrigen Fensterscheiben stand. Das zersplitterte Glas zerstückelte und verzerrte sein Gesicht und die der beiden Kinder, die auf beiden Seiten neben ihm standen und deren Hände er sanft in den seinen hielt. Sie sahen mich nicht an, aber ich erkannte auch sie. Onkel lächelte, wie er es so oft getan hatte, mit den Augen zuerst, neigte den Kopf leicht zur Seite und zuckte fast unmerklich und doch entschuldigend die Achseln. Die Weisheit war in diese Augen zurückgekehrt. Sie sahen mich voller Sehnsucht und mit einem seltsam friedlichen Ausdruck an, den ich nie zuvor in ihnen bemerkt hatte. Dem Himmel endlich näher als der Hölle, nickte er langsam, in der Gewissheit, dass ich verstehen würde. Er gab mich frei.
»Onkel hat ihn hierhergebracht«, hörte ich mich selbst antworten.
Ich war mir nicht sicher, ob das abgrundtiefe Gefühl von Grauen, das in der Luft lag, darauf zurückzuführen war, dass all das hier geschehen war, oder ob es lediglich ein Produkt meiner Einbildung war. Vielleicht hatten die Geister und die Taten der Toten Rückstände hinterlassen, die so real wie alles andere waren, obwohl es darauf nicht mehr anzukommen schien. Die Vision von Onkel, Angela und mir hinter den zerbrochenen Glasscheiben löste sich langsam auf und ließ nur Schnee, Kälte und Erinnerungen zurück; einen weit entfernten Wintertraum.
Boone taumelte ein Stück zurück, wollte nicht mehr näher kommen. Er sah mich hilflos an. »Aber sie – sie haben diese Wälder durchkämmt, und sie müssen auch hier gesucht haben, sie …«
»Bis sie angefangen haben, hier zu suchen, war es längst vorbei. Sie hatten keinen Grund, anzunehmen, dass hier irgendetwas passiert sein könnte, und alles was sie fanden, war ein altes, verfallenes Gebäude. Onkel war nicht mehr da. Keine Beweise mehr«, sagte ich flach. »Und kein Michael Ring mehr.«
»Ich will hier nicht bleiben«, stammelte Boone. Seine Nase lief und seine Lippen zitterten unkontrollierbar. »Warum, zum Teufel, hast du mich hierhergeschleppt?«
Ich wollte antworten, doch die Schreie aus dem Inneren des alten Hauses hatten bereits eingesetzt.
An diesem Morgen kommt mir Martha vor wie eine Erscheinung, wie ein Geist, der durch die Wände gleitet und Zeit und Logik außer Kraft setzt, um dort an dieser Stelle zu schweben, wie so oft. Gleich hinter dem Fußende unseres Bettes steht sie, ganz allein, dieses Gespenst, das im sanften ersten Dämmern eines neuen Tages kaum sichtbar ist. Ihr Haar ist ungekämmt und hängt auf ihre Schultern herab, glatt und voll, mit Funken von natürlichem Rostrot in sanftem Goldbraun. Sie trägt nur ein altes Sweatshirt, eines, das ihr viel zu groß ist – eines von meinen –, hält die Hände in den Ärmeln verborgen; die Linien ihres Körpers versteckt bis zum Bund des Shirts, das in der Mitte ihrer Schenkel endet. Ich bemerke die glatte Haut dort, folge ihr mit den Blicken die Waden hinunter zu ihren bloßen Füßen, und als ich meinen verschlafenen Blick wieder auf ihr Gesicht richte, lächelt sie mich mit einem kaum merklichen Kräuseln ihrer Lippen und einem Funkeln in den Augen an.
Dort, am Fußende des Bettes schlafen auf ihrer eigenen kleinen Decke die beiden Kätzchen, ineinander verschlungen, als hinge ihr Leben von ihrem Zusammenhalt ab, was vielleicht sogar der Fall ist.
Das Telefon klingelt, aber Martha scheint es nicht zu hören. Während ich in der nahezu vollständigen Dunkelheit inmitten eines Wusts aus
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