Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
gleich mit gestorben.«
»Ich hab mich bei all dem auch niemals gut gefühlt«, sagte Boone nach kurzem Schweigen. »Ich musste das auch mit mir herumtragen, erinnerst du dich? Aber ich glaube, Michael Ring bekam genau das, was ihm bestimmt war. Er war ein Stück Dreck, Andy, und Recht oder Unrecht, er hatte es verdammt noch mal verdient.«
»Aber nachdem es passiert war, nachdem alles so lief, wie es lief, ging es nicht mehr um ihn«, sagte ich, »es ging um uns.«
»Sieh mal, Andy, das war schon immer dein Problem. Du denkst verdammt noch mal zu viel. In dieser Hinsicht bist du wie eine Maschine, und das war schon immer so. Wir anderen haben auch Gefühle, und wir reagieren. Wir tun Dinge, die wir nicht tun sollten, und wir sagen Dinge, die wir nicht sagen sollten. Wir bauen Mist. Wir machen Dinge falsch, wir machen Dinge richtig. Und manchmal – meistens – ist das, was wir tun, weder richtig noch falsch, sondern irgendwas dazwischen.«
»Ich bin nicht anders als alle anderen auch und habe niemals vorgegeben, anders zu sein«, fauchte ich. »Warum wird immer so getan, als wäre ich heiliger als du? Das hast du mir schon immer vorgeworfen, aber so habe ich selbst nie empfunden. Ich hatte niemals die Absicht, diesen Eindruck zu erwecken.«
»Hast du dir jemals selbst zugehört?« Boone schüttelte den Kopf. Sein Atem bildete einen Ring aus Dampf um ihn herum, als hätte die Bewegung ihn gerade erst aus seinem Inneren hervorgeholt. »Ich hatte niemals die Absicht, diesen Eindruck zu erwecken. Wer außer dir redet so daher, verdammt noch mal? Alles was du tust und sagst ist so durchdacht und aus jedem möglichen Blickwinkel betrachtet. Aber bei all deinem Denken bist du derjenige, Andy, dem das Wichtigste entgeht. Dir, Andy, nicht irgendjemand anderem.«
»Was Onkel getan hat, hat uns alle verletzt, Boone. Es hat uns alle gleich gemacht.«
»Möchtest du das denken? Na gut. Aber ich lebe in der realen Welt, Andy, und in der realen Welt sind die Dinge nicht schön und sie sind nicht perfekt und manchmal lassen einen die Menschen im Stich. Hast du dir jemals die Mühe gemacht, von dieser Seite her darüber nachzudenken? Das bezweifele ich. Du möchtest den Märtyrer spielen, dann mach so weiter. Es ist zwanzig Jahre her, aber wen interessiert das schon?« Boone starrte mich wütend an. »Ich wette, dieser ganze pazifistische Mist gibt bei euren kleinen akademischen Cocktailpartys guten Gesprächsstoff ab, aber in der wirklichen Welt, in der wir anderen leben, funktioniert das nicht. Weißt du, was in der wirklichen Welt passiert ist? Sie haben Gandhi erschossen. Sie haben Martin Luther King weggeblasen. Sie haben Jesus ans Kreuz genagelt. Das haben sie in der wirklichen Welt getan.«
»Wer sind sie, Boone?«
»Was soll ich dir darauf antworten? Leute wie ich? Möchtest du das hören?«
»Warum bin ich hier der Drecksack?«
»Das bist du nicht. Das warst du damals nicht, und das bist du auch heute nicht. Michael Ring, der war der Drecksack, Andy. Nicht du. Und nicht der Onkel.«
Einen Augenblick lang war er wieder der Junge, der von ihm als Onkel gesprochen hatte, wie Angela und ich, der Junge, der Onkel wie einen Heiligen verehrt hatte, weil er alles gewesen war, was er so verzweifelt bei seinem eigenen Vater gesucht und gebraucht hatte und niemals finden konnte. Aber der junge Boone verschwand wieder und der neue stand frierend vor mir in der Kälte und trat von seinem verletzten Bein auf das gesunde.
»Ich frage dich noch einmal, Andy. Was machen wir hier draußen?«
Ich konzentrierte mich auf die Senke am Rande des Parks und die Baumreihen, die uns schweigend entgegenstarrten. Ohne zu antworten stapfte ich darauf zu.
Nach kurzer Zeit standen wir inmitten der Bäume und blickten in den umgebenden Wald hinein. Etwa dreißig Meter vom Waldrand entfernt stand alt und verfallen ein kleines Gebäude. Es war in den Vierzigerjahren erbaut worden, als es im Smyth Park noch einen vollamtlichen Verwalter gegeben hatte, aber jetzt stand es seit Jahrzehnten leer und ungepflegt da. Ein niedriges, jedoch zweistöckiges, schachtelförmiges Gebäude mit verrotteten braunen Schindeln und verfallenem Dach. Die vielfach unterteilten Fenster waren nur an wenigen Stellen noch intakt, die Glasscheiben, die die quadratischen Öffnungen einmal gefüllt hatten, waren größtenteils nur noch Erinnerung. Wunderbarerweise schaffte das Haus es jedoch, nicht ganz hoffnungslos auszusehen, und seine Struktur schien größtenteils
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