Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
du dir selbst nicht mehr in die Augen schauen kannst, hab ich nicht recht?«
Er schwieg lang genug, um einen weiteren Schluck zu nehmen. »Wir sind nicht so weit von den Höhlen entfernt, wie wir gern glauben würden, Andy, wissen Sie, was ich meine? Und wissen Sie was? Das ist nicht das Schlechteste. Das ist wie in der Natur. Die Tiere machen es richtig. Eines von ihnen bedroht die Herde, und sie töten den Schweinehund. Töten ihn . Sie dünnen die verdammte Herde aus. Kein Getue deswegen, sie machen keine große Sache daraus, sie tun es einfach. Wissen Sie warum? Weil es das ist, was getan werden muss, das ist die Natur der Dinge. Und keiner von ihnen stellt sich ihnen in den Weg oder sagt ihnen, sie wären schlecht oder was sie tun oder nicht tun sollen. Keine Konsequenzen. Verstehen Sie, was ich meine? Keine Konsequenzen, weil es nicht um Sollen oder Nichtsollen geht. Manchmal geht es darum, was richtig ist und was getan werden muss. Hey, es ist nicht immer schön und nett und sauber, richtig. Aber was in dieser Welt ist das schon?
Nehmen sie beispielsweise Dolores und Reggie«, fuhr er kurz darauf fort. »Ich hab ziemlich viel gelesen. War nie ein sonderlicher Bücherwurm, aber in letzter Zeit habe ich ein paar Bücher über den Körper gelesen – Knochen und so einen Scheiß, größtenteils. Und ich habe dieses Brecheisen. Schwerer Bastard. Hab es jetzt schon eine Weile. Hab’s unter meinem Bett. Ich hab versucht, es mir auszureden, aber ich weiß, dass es ist wie es ist. Ich muss tun, was ich tun muss. Es ist nicht meine Schuld, dass meine Frau und mein bester Freund beschlossen haben, mein Leben zu versauen und ihres auch. Das ist deren Schuld, hab ich nicht recht? Also, was immer passiert, sie haben es sich selbst zu verdanken. So sehe ich es.«
Er lächelte und trank einen weiteren Schluck Wodka. Die Dunkelheit in seinen Augen war verschwunden und einem beunruhigenden Funkeln gewichen. »Zuerst kümmere ich mich um Dolores. Dann um Reggie. Ich wollte ihnen erst die Beine brechen, okay? Dachte, das wäre das Beste. Aber dann habe ich dieses Buch gelesen, und ich hab beschlossen, dass ich sie genau da hin schlagen werde.« Er zeigte oben auf seine Brust. »Ich breche ihnen die Schlüsselbeine. Sehr schmerzhaft und heilt verteufelt schlecht, so steht’s in dem Buch. Also denke ich, ich breche ihnen ihre verdammten Schlüsselbeine. Was werden die mir tun, Andy? Mich ins Gefängnis stecken?« Er lachte plötzlich. »Vermutlich. Kümmert mich das? Nein. Nicht im Geringsten. Glauben Sie, das ist richtig? Ist es richtig, mich dafür ins Gefängnis zu stecken, dass ich mein verdammtes Leben verteidige, meinen Verstand, meine Ehre, meine Männlichkeit? Ist es das? Ich weiß es nicht. Ich sage, nein, aber wer zur Hölle hört schon auf mich?«
»Ich höre Ihnen zu«, sagte ich ruhig.
Er nickte und trank seinen Drink aus. »Sie sind ein guter Mensch.«
Ich blickte die Bar entlang. Der Barkeeper hatte schon vor einer Weile aufgehört zu telefonieren und sein Gespräch mit dem alten Mann fortgesetzt. Ich wandte mich wieder Henry zu.
»Ich weiß, Sie haben wirklich Kummer«, sagte ich vorsichtig, »aber werfen Sie ihr Leben nicht weg. Das ist es nicht wert.«
Henry lächelte wie ein vergnügtes Kind. »Und was dann? Sagen Sie es mir. Irgendetwas? Gibt es irgendetwas, das es wert ist?«
Die lachenden Augen meines Onkels blitzten in meinen Gedanken auf.
»Das weiß ich nicht, ich …«
»Glauben Sie an das Schicksal, Andy?«
So, wie ich mich in dem Moment fühlte, war ich nicht sicher, ob ich überhaupt noch an irgendetwas glaubte.
Vielleicht war das das Problem.
Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Tür und ein Schwall eiskalter Luft zog durch die Bar. Ein in einen Mantel eingewickelter Mann mit Hut und Handschuhen stand mit finsterem Gesicht im Eingang. Er winkte dem Barkeeper, der daraufhin nickte und zu Henry sagte: »Dein Taxi ist da, Chef.«
»Ich muss gehen, Mann.« Henry sah mich an und zuckte hilflos mit den Schultern, das Gesicht noch immer zu dem dümmlichen, betrunkenen Grinsen verzogen, mit dem er versuchte, zu verbergen, was wirklich in ihm vorging. Er warf etwas Geld auf den Tresen, legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie kurz. »Habe eine Herde zu hüten«, sagte er mit einem Zwinkern.
Der Barkeeper kam um den Tresen, half Henry in einen langen Mantel und begleitete ihn zum Taxifahrer hinüber. Sobald sie verschwunden waren, schlenderte er zur Bar zurück und lachte
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