Sagen des klassischen Altertums
dir, dem ehrfurchtgebietenden Gotte, kämpfen wollte.« So sprach Apollo und wandte sich, voll Scheu, wider den Bruder seines Vaters gewaltsam den Arm aufzuheben. Da spottete seiner die Schwester Artemis und rief höhnend: »Fliehest du schon vor der Schlacht, du Fernhintreffer, und räumst dem prahlerischen Poseidon den Sieg ein? Du Tor, was trägst du alsdann auf der Schulter den Bogen, das nichtige Kinderspiel?« Aber Hera verdroß die Spottrede: »Gedenkst du etwa, weil du dein Geschoß auf dem Rücken trägst, dich mit mir an Stärke zu messen, du Schamlose?« sprach sie, »wahrlich, dir wäre besser, du 203
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
gingst in die Wälder, einen Eber oder Hirsch zu erlegen, als frech gegen höhere Götter anzukämpfen! Und doch, weil du so trotzig bis, so magst du meine Hand fühlen.« So schalt sie, ergriff mit der Linken beide Hände der Göttin am Knöchel, mit der Rechten zog sie ihr den Köcher samt den Pfeilen von der Schulter und versetzte damit der Zurückgewendeten schimpfliche Streiche um die Ohren, daß die Pfeile klirrend aus dem Köcher sanken. Wie eine schüchterne Taube, vom Habicht verfolgt, ließ Artemis Köcher und Pfeile liegen und floh unter Tränen davon. Ihre Mutter Leto wäre ihr zu Hilfe geeilt, wenn nicht Hermes in der Nähe auf der Lauer gestanden wäre. Als dieser das inneward, sprach er zu ihr: »Ferne sei von mir, daß ich mit dir streiten wollte, Leto; gefahrvoll ist der Kampf mit den Frauen, die der Donnerer seiner Liebe gewürdigt hat. Deswegen magst du dich immerhin im Kreise der Unsterblichen rühmen, mir obgesiegt zu haben.« So sprach er freundlich: da eilte Leto herbei, hub den Bogen, den Köcher und die Pfeile, wie sie wirbelnd da- und dorthin in den Staub gefallen waren, sie sammelnd, auf und eilte der Tochter nach, zum Olymp hinan. Dort hatte sich Artemis weinend auf die Knie des Vaters gesetzt, und ihr feines, von Ambrosia duftendes Gewand bebte ihr noch vom Zittern der Glieder. Zeus schloß sie liebkosend in die Arme und sprach unter freundlichem Lächeln zu ihr: »Welcher von den Göttern hat es gewagt, dich zu mißhandeln, mein zartes Töchterchen?« »Vater«, antwortete sie, »dein Weib hat mir ein Leids getan, die zornige Hera, die alle Götter zu Streit und Hader empört.« Da lachte Zeus, streichelte sie und sprach ihr Trost ein.
Drunten aber ging Phöbos Apollo hinein in die Stadt der Trojaner; denn ihm war ernstlich bange, die Danaer möchten, dem Schicksale zum Trotz, noch heute die Mauer der schönen Feste niederreißen. Die übrigen Götter eilten, die einen voll Siegeslust, die andern voll Zorn und Gram, in den Olymp zurück und setzten sich um den Vater, den Donnergott, im Kreise.
ACHILL UND HEKTOR VOR DEN TOREN
Auf einem hohen Turme der Stadt stand der greise König Priamos und schaute nieder auf den gewaltigen Peliden, wie er die fliehenden Trojaner vor sich her trieb, ohne daß ein Gott oder ein Sterblicher erschien, ihn abzuwehren. Wehklagend stieg der König vom Turme hernieder und ermahnte die Hüter der Mauer:
»Öffnet die Torflügel und haltet sie, bis alle die fliehenden Völker sich in die Stadt hereingedrängt haben, denn Achill tobt ganz nahe dem Schwarm, und mir ahnet schlimmer Ausgang. Sind sie innerhalb der Mauer, so füget mit die Flügel wohl ineinander, sonst stürmt der Verderbliche hinter ihnen durch das Tor zu uns herein!« Die Wächter schoben die Riegel zurück, die Torflügel taten sich auseinander, und eine Rettungspforte stand offen.
Während aber die Trojaner, ausgedörrt von Durst, bedeckt mit Staub, durch das Blachfeld flohen und Achill mit seiner Lanze sie wie wahnsinnig verfolgte, verließ Apollo Trojas offenes Tor, die Not seiner Schutzbefohlenen zu wenden. Er erweckte den Helden Agenor, den tapfern Sohn Antenors, und stand ihm, in dunkeln Nebel eingehüllt, an die Buche des Zeus gedrängt, selbst zur Seite. So geschah es, daß Agenor zuerst von allen Trojanern im Fliehen innehielt, sich besann und schämte und zu sich selbst sagte: ›Wer ist es, der dich verfolgt? Ist nicht auch ihm der Leib mit spitzem Eisen verwundbar, ist er nicht auch sterblich wie andere Menschen?‹ So faßte er sich in Gedanken und erwartete den heranstürmenden Achill, streckte den Schild vor und rief ihm, die Lanze schwingend, entgegen: »Hoffe nicht so schnell die Stadt der Trojaner zu verheeren, Törichter; noch gibt es Männer unter uns, die für Eltern, Weiber und Kinder ihre Feste beschirmen!«
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