Sagen und Märchen Altindiens
hinter einem Hirschen her, den sein Bogen weidwund geschossen hatte. Voll Eifer folgte der Jäger der blutigen Spur, bis sie sich auf einer Lichtung verlor. Im eifrigsten Suchen stieß er auf einen Brahmanen, der still seine Kühe hütete.
»Ehrwürdiger!« rief er hastig, »sahst du nicht einen weidwunden Hirschen vorüberspringen? – Sprich! Ich bin der König!«
Der fromme Büßer erwiderte nichts auf die schnelle Frage, denn er hatte am Morgen gelobt, den Göttern zu Ehren einen Tag lang zu schweigen.
»He! sprich!« rief Parikschit ungeduldig. »Ich bin Herrscher in diesem Lande!«
Vor dem gleichmütigen Schweigen des Priesters überfiel dem eifrigen Jäger der Zorn. Verächtlich schnellte er mit dem Ende des Bogens eine tote Schlange gegen den Büßer und lief davon, aufs neue den Hirschen zu suchen.
Der Schlangenleib aber hatte sich wie eine Kette um des Geduldigen Hals gelegt. Freundlichen Auges sah der Büßer dem enteilenden König nach und freute sich dieser Prüfung. Demütig trug er das Aas am Halse: in würdiger Beherrschung seines Zornes die Schmach zum Schmucke verwandelnd!
Schamika hieß der gute Heilige, und er hatte ein Söhnlein namens Schiringin. Der war ein lebhafter Knabe, welcher über seine Gespielen zu herrschen gewohnt war.
Als die Knabenschar den Heftigen am nächsten Tag verspottete, weil sein Vater den sonderbaren Schmuck auch ferner trug, da wallte Schringins heißes Blut über. Weihwasser sprengend rief er aus:
»Stirb, Parikschit! Du Eitler, der einen Weisen zu schmähen wagte, stirb am siebenten Tag von heute: Das Gift des Natternkönigs Takschaka soll dich töten!«
Und das Schicksal hörte den Fluch des Heiligensohnes und verhängte seine Erfüllung über Parikschit.
Schringin aber lief zu seinem Vater und erzählte, schluchzend vor Zorn und Freude, wie er die schändliche Tat des Königs gerächt habe.
»Wehe! mein Sohn!« rief Schamika erschreckt. »Was hast du getan? – Nie soll ein Frommer den Zorn für sich sprechen lassen: Geduld und Weisheit sind die Zauberwaffen des Brahmanen!
Du hast den edlen König Parikschit dem Tode geweiht! – Weh' uns! Im Lande ohne König herrscht Not und Elend – Recht und Pflicht vergehen, wo keine starke Hand sie schützt – Indra versagt dem königlosen Land den Regen, und die Dämonen der Dürre heben froh ihr Haupt! – Wer soll die Frommen schützen, wo keine Macht die Bösen bändigt? –
Und Parikschit ist gut – der Jagdeifer nur hatte ihn hingerissen – er kannte mein Schweiggelübde nicht und hielt sich für verhöhnt! – 0 schneller Zorn der Jugend!«
»Mein Vater, was ich sprach, wird sich erfüllen!« rief Schringin, »sei's lieb dir oder leid! – Ich sprach noch nie ein Wort, und war's im Scherz gewesen, das nicht der Wahrheit folgte, sie verkündete: Heut' über sieben Tage stirbt der König vom Gifte Takschakas!«
»Weh' uns! – Ich laß den Guten warnen! – Und du – lern' Selbstbeherrschung! zügle deinen Zorn, wenn er dich nicht ins Elend reißen soll! – Der Weise trägt die Welt in sich – nichts außer ihm kann ihn zu Wort und Tat enflammen! – Wie fern bist du davon, mein Sohn!«
Darauf sandte Schamika einen seiner Jünger nach Hastinapura und ließ dem König sagen, daß Schringin ihn in schnellem Zorn verflucht habe.
Voll Schrecken über die Gefahr, versammelte Parikschit seinen Rat, und dieser traf alle Vorsichtsmaßregeln, um den geliebten Herrscher vor der Natter zu schützen:
Der König wurde ins innerste Gelaß des Palastes gebracht. Jeder Eingang, jede Spalte und Ritze wurde aufs sorgfältigste bewacht. Die besten Ärzte rief man aus dem ganzen Land herbei und stellte Heilkräuter und Gegengifte bereit.
Und doch ward der siebente Tag voll Sorge erwartet!
In der Schlangenwelt aber herrschte eitel Freude:
Voll Angst hatten die von Mutter Kadru verfluchten Geschöpfe der Erfüllung des Fluches entgegengesehen. Parikschits künftiger Sohn sollte das vernichtende Opfer feiern, und noch hatte Wasukis Schwester den ihr bestimmten Gatten nicht finden können. Nun befahl der Fluch Schringins, daß Takschaka Parikschit töte! und – Parikschit hatte noch keinen Sohn. – Konnte ein Fluch den anderen aufheben?
Frohen Herzens zog Takschaka gegen Hastinapura. Vor dem Stadttor traf er Kasiap, den berühmtesten der Ärzte. Flugs nahm er die Gestalt eines Brahmanen an und näherte sich dem Weisen.
»Wohin so eilig? würdiger Arzt!« rief er ihn an.
»Zum König! – Takschaka will ihn heute
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