Sagen und Märchen Altindiens
beißen, und ich werde ihn heilen!«
»O Weiser! Ich bin Takschaka, und meinem Gift ist deine Kunst wohl nicht gewachsen! – Sieh hier den Baum! – ich beiße ihn in die Wurzel – und schon verdorren seine Blätter – Zweig' und Äste fallen – –«
»Halt!« rief Kasiap. Rasch machte er sich an dem sterbenden Baum zu schaffen, und wenige Augenblicke später trieb der Geheilte neue Knospen und grünendes Laub.
Takschaka stand betroffen da.
»Ich staune über deine Kunst, weiser Arzt!« sprach er dann. »Und doch wird es dir nicht gelingen, den König zu retten: Eines Brahmanen Fluch wirkt stärker als alles Gift!«
Und da er den Arzt nachdenklich werden sah, fuhr der Schlaue fort:
»Kehre um, Weiser, und lasse deine Kunst nicht vor dem Schicksal zuschanden werden! Soviel als dir der König geboten hat, soviel und noch mehr will ich dir geben.«
Damit war Kasiap zufrieden, und nachdem er des Schlangenkönigs Geld genommen hatte, wandte er Hastinapura den Rücken und ging nach Hause.
Takschaka schritt durch das Tor und kam bis zum Palaste des Königs. Als er sich hier von Wachen angehalten sah, ging er hinweg und rief einige seiner Schlangen. Diese verwandelte er in Brahmanen und ließ sie am Tor des Palastes köstliche Früchte, als Huldigungsgabe für den bedrohten König, abgeben.
Parikschit freute sich über die ehrerbietige Spende, doch als er einen der Äpfel öffnete, sah er darin ein kleines Würmchen. Erschrak er auch zuerst vor dem winzigen Schlänglein, so faßte er sich doch bald und sprach:
»Der kleine Heilige soll wahr gesprochen haben: Ich will dies kleine Abbild der Schlange ›Takschaka‹ nennen und mich von ihm beißen lassen!«
Lachend hielt er den zappelnden Wurm an seinem Hals.
Doch der schwoll zwischen seinen Fingern zum wahren König der Nattern an, umstrickte den Leib des Entsetzten und schlug seine Zähne in dessen nackten Hals.
Tod fiel Parikschit zu Boden, und im selben Augenblick brachte seine Gattin ein Knäblein zur Welt und nannte es Dschanamedschaja.
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Zu jener Zeit zog ein büßender Brahmane namens Dscharatkaru als Bettler durch die Lande. Als ihn die Lust der Jugend zum erstenmal geschüttelt hatte, war sein feierliches Gelübde zum Himmel gestiegen:
»Ohne Freude will ich durch die Welt wandern, ohne Haus und Eigentum leben; wo mich die Nacht findet, will ich mich schlafen legen! Herr will ich bleiben über Leib und Geist, Lust und Schmerz, Haß und Liebe! Dscharatkaru soll Dscharatkaru genügen!«
In stiller Versunkenheit war er seither durch die Lande gezogen und hatte viel fromme Weisheit in sich gefunden.
Einst kam er auf seiner Wanderschaft an einen Abgrund. Ein schwankendes Rohr sah er über die gähnende Tiefe ragen, und daran hingen, kopfabwärts, viele Seelen von Verstorbenen. Das Rohr hing nur noch an einer einzigen Wurzelfaser, und daran nagten abwechselnd eine schwarze und eine weiße Maus.
Entsetzt schrie er auf:
»O ihr Unglücklichen! Gleich wird die letzte Wurzelfaser reißen, und ihr stürzt in den schrecklichen Abgrund. Oh, könnt' ich euch helfen! Ein Viertel – die Hälfte – ja, meine ganze Buße will ich hingeben – wenn das euch retten kann, denn mein Herz ist von Mitleid erfüllt!«
»Nicht an Buße mangelt es uns, du Guter!« sprachen die Seelen. »Wir sind das fromme Geschlecht der Jajawara und haben die schönsten Plätze im Himmel! doch werden wir sie bald verlieren.
Du weißt, die Seelen der Abgeschiedenen vergehen, wenn kein Enkel ihrer im Opfer gedenkt. Und Dscharatkaru, der letzte unseres Stammes, will unvermählt sterben. Siehe das Rohr, das uns trägt, ist unser starkes Geschlecht. Die letzte Wurzelfaser ist der letzte unseres Stammes.
Schwarz und weiß nagen Nacht und Tag an seinem Leben. Ist es zu Ende, so stürzen wir in den Abgrund der Hölle!
O edler Fremdling, der du das Leid mit uns fühlst, suche Dscharatkaru und sage ihm, er soll ein Weib nehmen, auf daß sein Sohn den Shimm fortsetze, wie Brahma es den Menschen gesetzt hat!«
Da warf sich Dscharatkaru an dem Abgrund nieder und schrie:
»Ich Unglücklicher bin Dscharatkaru, euer Sohn und Enkel! Durch Weltflucht wollt' ich euch und mir den Himmel verdienen, und mein strenges Gelübde droht euch nun mit dem Höllenpfuhl. Oh – oh – wie bedrückt mein Schwur die Seele, seit ich euch über dem Abgrund sehe! – Ich will ein Weib suchen – ich kann mein Gelübde nicht brechen – – Find' ich ein Mädchen namens Dscharatkaru – denn: Dscharatkaru soll
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