Sagen und Märchen Altindiens
in der Wildnis bleichten.
Von Tag zu Tag wurden weniger die Frommen, die allein die heiligen Opferbräuche und das alles ordnende Wissen des Weda kannten. Die Feuer erloschen auf den Altären, die Menschen wüteten gegeneinander in Haß und Mord, denn kein Gesetz, keine Vätersitte zügelte ihr wildes Wesen, seit die Überlieferung mit den Lehrern der Menschheit dahinschwand. Einer scheute den andern, wie das Lamm den Tiger, und sie flohen einander und bargen sich in den Höhlen und Klüften der wildesten Berge.
Nur wenige, in denen die alte Tugendlehre durch einzelne, den Dämonen entgangene ßrahmanen lebendig erhalten worden war, zogen als Helden gegen die Schrecken der Finsternis. Doch sie blieben im Kampf mit den Unholden.
Die Lichtgötter verloren an Kraft und Macht, als die Opfer ausblieben, denn der Glaube stärkt Menschheit und Gottheit.
In dieser Not kamen die Himmlischen zu dem allewig Unveränderlichen und baten ihn um Hilfe für seine Welt.
»Ihr sollt die Brahmanenmörder vernichten!« sprach Brahma, »und müßtet ihr dazu den Meeresgrund trocken legen! – Bittet den Heiligen Agastya! Die Bußkraft dieses Frommen ist mächtig genug, um euch zu helfen!«
Da gingen sie nach der Klause des Heiligen und sprachen zu ihm: »Du frommer Seher der Urzeit, der du dem Windhiaberge das Wachsen verboten, als er voll Neid auf den Meru die Sonne verdunkeln wollte! Du Starker, der den Frevler Nahuscha vom Weltenthron gestürzt! Du Edler, der stets der Welt aus aller Not geholfen! Hilf ihr aus diesem verderbenbringen den Elend! Leere den Ozean, daß wir die tückischen Brahmanenmörder fassen und vernichten können!«
Da neigte sich der Gewaltige zum Gestade hinab und trank das Meer aus, bis auf den letzten Tropfen!
Die Götter aber stürmten über den Meeresgrund und töteten die aufgescbreckten Dämonen zu Tausenden und aber Tausenden. Nur eine kleine Schar der Verfolgten grub sich durch die Erde und floh in die Unterwelt, wo Kapila, der Beherrscher des grausigen Patala, thront.
Die sieghaften Götter umwandelten den Heiligen Agastya rechtshin und priesen seine weltbefreiende Tat. Dann baten sie ihn, den Ozean wieder zu füllen, daß in der Welt die alte Ordnung herrsche.
Doch Agastya vertröstete sie auf kommende Zeiten, da Bhagiratha, ein König aus dem Geschlecht der Ikschwakuiden, dem Himmelsstrom Ganga den Weg ins leere Becken des Ozeans weisen würde.
Damals herrschte zu Ajodhia Sagara, ein Urenkel Ikschwakus.
Seine erste Gattin hatte ihm den Stammhalter Asamandscha geschenkt, die zweite einen Kürbis, aus dessen Kernen ihm sechzigtausend starke Söhne erwuchsen. Denn der Segen des heiligen Bhrigu ruhte auf Sagaras Haus.
Die sechzigtausend Sagariden waren gefürchtet auf der weiten Erde. Als gewaltige Kämpfer zogen sie durch die Lande;, und ihr hochgemuter Stolz kannte keine Grenzen.
Als der König ein Pferdeopfer feiern wollte, vertraute er das Opferroß der Hut seiner tapferen Söhne an.
Dem strengen Opferbrauch gemäß, schweifte der todgeweihte Hengst, jeder Fessel ledig, durch das Land. Als er auf den trockenen Grund des Meeres geriet, verlor er sich durch die Dämonenschlucht in die Unterwelt.
Lange suchten die Sagariden ihn auf der ganzen Erde, denn ein unvollendetes Opfer mußte ihrem Haus, ja dem ganzen Lande schweres Unheil bringen.
Endlich kehrten sie ohne das ihrer Sorge anvertraute Tier nach Ajodhia zurück und berichteten dem Vater von ihrem Unglück.
Da fuhr Sagara zornig empor und schrie:
»Bringt mir das Roß zum Opfer! und wenn ihr es aus der Unterwelt holen müßtet! – Sonst will mein Auge euch nicht mehr sehen!«
Die Sagariden suchten aufs neue die Erde und den Meeresgrund ab und fanden endlich die Schlucht, durch welche die letzten Dämonen zum Patala gefahren waren.
Diese betraten sie mutig und, Schritt für Schritt gegen Schlangen und Drachen, Geister und Riesen kämpfend, kamen sie endlich bis zum höllischen Feuer, dem funkelnden Thron des mächtigen Kapila.
Das lange gesuchte Opferroß sprang mutwillig neben dem Throne umher.
Und statt sich ehrfürchtig vor dem Herrn der Unterwelt zu neigen, umstellten die stolzen Recken den flüchtigen Renner und wollten ihn nach der Oberwelt treiben.
Darob ergrimmte der Herr des Feuers, und ein Zornesblick aus seinen Augen verbrannte sie alle zu Asche. Sechzigtausend weiße Häuflein lagen rings um das Pferd.
Zu Ajodhia aber harrte Sagara lange Jahre seiner Söhne und des Hengstes, denn er mochte nicht sterben, ohne das
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