Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
handele.
Munárriz versuchte sich die Situation zu vergegenwärtigen. Die junge Frau, die sich in ihrem Arbeitscontainer eingeschlossen hatte, benötigte für ihre Arbeit ein bestimmtes Buch. Sie war also aufgestanden, hatte die Trittleiter an das Regal gestellt, den Band herausgenommen und beim Heruntersteigen den Fuß auf die nächste Stufe gesetzt. Sie war ausgeglitten, mit dem Kopf auf die Tischkante geprallt und hatte sich dabei das Genick gebrochen. Die Statistik belegte, dass Arbeits- und Haushaltsunfälle weitaus mehr Todesopfer forderten als Gewalttaten.
»Alles in Ordnung, Inspektor?«, fragte ihn Llopart, als er hinaustrat.
»Ja. An der Sache scheint in der Tat nichts verdächtig zu sein.«
»Nicht das Geringste«, stimmte ihm der Mann zu. »Der Gerichtsmediziner hat an Ort und Stelle in Anwesenheit des Richters, der die Leiche zum Abtransport freigegeben hat, Unfalltod durch schweres Gehirntrauma diagnostiziert.«
»Danke.«
»Gern geschehen, Inspektor.«
Gerade als Munárriz gehen wollte, sah er, wie zwei Männer in Schwarz näher kamen, die ihre im Wind flatternden Gewänder festhielten – der Bischof von Barcelona in Begleitung eines an seiner Soutane kenntlichen Priesters. Llopart verzog das Gesicht. Das roch nach Ärger. Der Bischof, der sich in der Öffentlichkeit häufig und mit Nachdruck für den Religionsunterricht als Pflichtfach an staatlichen Schulen einsetzte und gegen das Zusammenleben von Homosexuellen wetterte, trat vor die beiden Männer und sagte mit bedeutungsvoller Stimme: »Ich bin …«
»Monseñor Granvela«, ergänzte der Beamte der Regionalpolizei. »Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches?«
»Warum hat uns niemand von der Sache in Kenntnis gesetzt?«, knurrte der Bischof gekränkt. Die Frage klang wie ein Befehl.
»Vielleicht wollte die Innenbehörde den abschließenden Bericht abwarten.«
»Mag sein …«, gab der Prälat zurück. »Können Sie mir etwas dazu sagen?«
»Ein bedauernswerter Arbeitsunfall«, teilte ihm Llopart mit. »Die Restauratorin ist von einer Trittleiter gestürzt, als sie ein Buch aus dem Wandregal nehmen wollte, und dabei mit dem Kopf unglücklich gegen ihren Arbeitstisch geprallt.«
»Und wer sind Sie?«, wandte sich der Bischof in scharfem Ton an Munárriz.
»Ein guter Bekannter des Vaters«, gab dieser zurück, wobei er seine Zugehörigkeit zur Kriminalpolizei verschwieg, um keine Komplikationen heraufzubeschwören.
»Aha.« Sich wieder Llopart zuwendend, erkundigte sich der Bischof: »Und Sie sind mit der Leitung der Untersuchung beauftragt, Señor …?«
»Jordi Llopart von der Wache Ensanche«, teilte ihm dieser mit. Der hochnäsige Ton des Bischofs ärgerte ihn. »Ja, ich leite die Untersuchung.«
»Dann hören Sie mir mal gut zu, junger Mann«, stieß der Bischof hervor, wobei er ihm mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht herumfuchtelte. »Ich habe da draußen eine Journalistin von La Vanguardia gesehen und möchte auf keinen Fall, dass in dieser Sache Spekulationen in Umlauf gebracht werden. So etwas verschreckt die Öffentlichkeit nur unnötig. Sagen Sie Ihren Vorgesetzten, dass sie unverzüglich eine Pressemeldung herausbringen sollen, um die Situation klarzustellen. Ich erwarte, dass das Ganze heruntergespielt wird. Immerhin handelt es sich hier« – er beschrieb mit dem Arm einen großen Kreis – »um einen der meistbesuchten Orte des Landes …«
»Ich werde es weitergeben«, unterbrach ihn Llopart.
»Ich habe mich bereits mit der Innenbehörde in Verbindung gesetzt«, knurrte der Bischof drohend.
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Monseñor Granvela?«, erkundigte sich Llopart betont liebenswürdig. Es war nichts weiter als die verhüllte Aufforderung an den Bischof zu gehen.
»Nein. Und denken Sie daran: Ich erwarte, dass es kein Aufsehen gibt.«
Zusammen mit seinem Begleiter verschwand er ebenso eilig, wie sie gekommen waren. Sein Dienstwagen, ein in Schwarzmetallic lackierter Audi A 8 mit getönten Scheiben, wartete mit laufendem Motor.
Munárriz konnte die Beweggründe des Bischofs nachvollziehen. Die Kirche, die nicht nur deshalb unter Druck stand, weil ihr die Menschen davonliefen, was ihre Einkünfte schmälerte, sondern auch, weil sich immer weniger Männer zum Priesteramt bereitfanden, wachte eifersüchtig über ihre Interessen. Mit Sicherheit hätte es der Bischof am liebsten gesehen, wenn man den Unfall in der Öffentlichkeit totschwiege. Jahr für Jahr besuchten zweieinhalb Millionen Touristen die
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