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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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vorgesehen, ja aus welchen Beweggründen sie überhaupt gehandelt, darüber sind bekanntlich Bibliotheken scharfsinnigster Hypothesen geschrieben; man weiß zwar, daß sie eine Todfeindin des Grafen Henri gewesen, und munkelt auch, daß die enorme Häßlichkeit des Bastards sie hingerissen habe (er war bucklig, verfratzt, lederhäutig und hinkend); fest steht auch, daß das Duell stattgefunden hat. Sonst ist, auch vom Schicksal der Protagonisten in den inneren Wirren unter Charles le Fou, dem wahnsinnigen Sechsten Karl von Frankreich, jede weitere Kunde verschollen.
    Die wesentlichen Quellen für das Duell sind die kostbaren Fragmente der „Luziferischen Jahresläufte“ von Estienne Nouvielles und die so spät, und leider auch so stückhaft, auf uns gekommenen Annalen des „Unbekannten Chronisten der Seegrafschaft“, dazu einige Briefe der Jeanne Viole und des Intendanten, ein paar Hinweise in anderen Briefen, ein paar Tagebuchfetzen; die Welt stand damals im Bann des Konzils von Pisa mit seinen drei Päpsten, des Nachhalls der Ermordung des Orleans zu Paris und der Predigten des Jan Hus in Böhmen, außerdem kündigte eine neue Invasion Englands in Frankreich sich an, was kümmerte da die Lokalintrige einer drittrangigen Maitresse? Berühmt geworden ist dies Duell ja erst dadurch, daß von seinem Ausgang nur jenes „höchst grausam“ überliefert, an welcher sparsamen Formulierung sich die historischen Geister entzündeten; eine Hypothese (Analogien am Hof des wahnsinnigen Charles bemühend) entwarf das Gemälde eines Feuers, in dem die Streiter umgekommen; eine andere, die viel Zulauf fand, konstruierte einen Aufstand der Traulecer Bürger. Die Lehrmeinung in Uniterr ging seit je dahin, daß der Schweinehirt den Grafen besiegt, doch die Soldschreiber der herrschenden Kaste diesen Umstand totgeschwiegen, Musterbeispiel der geistigen Knechtschaft, die in vergangenen Zeiten gewaltet und erst in Uniterr überwunden; und sie war sich, diese Lehrmeinung, ihrer selbst so sicher, daß sie in alle Schulbücher einging, als berichte sie einen Tatbestand.
    Diese Verschiebung von der Fiktion in die Fakten gehört zum Geschichtsdenken Uniterrs, doch bevor wir dazu noch etwas sagen und bevor wir nun endlich die Demonstration samt ihrem tatsächlich höchst grausamen Ausgang erzählen, sollten wir etwas zum Technischen sagen: Der Projektionskasten war fast unsichtbar, aber doch deutlich als flirrender Raum wahrzunehmen und bei nicht mehr als zwei Meter lichter Höhe nur von drei Meter Länge wie Breite, so daß, bei fünfzigfacher Verkleinerung, eine Realszene von etwa hundertfünfzig Meter Breite und Tiefe bei hundert Meter Himmel erfaßt werden konnte. Die Akteure maßen demnach um die drei Zentimeter, eine Gesellschaft in Ameisengröße; selbstverständlich war es dem Zuschauer möglich, durch ein System von Vergrößerungsgläsern sich jeden beliebigen Panoramaausschnitt und jedes Detail wie unterm Mikroskop vors Auge zu führen; und selbstverständlich hielt eine Kamera das abrollende Ereignis im Naturmaßstab fest. — Daß die Projektion in ihrem Ablauf von den Zuschauern so wenig zu beeinflussen war wie etwa das Abbild des Sternenhimmels in der Linse des Auges, versteht sich von selbst.
    Pavlo wurde also die Teilnahme gestattet, und da der Einlaß schon mehrere Stunden vor Demonstrationsbeginn erfolgte, verpaßte er trotz der Recherchen nichts. — Sanftes Schnurren der Oszillatoren; der Abbau der Supergeschwindigkeit des rückgespiegelten Lichtes geschah weit draußen auf einer Satellitenstraße. Hätte ein Uneingeweihter den Hörsaal betreten, ihm wäre weiter nichts aufgefallen als eine graue Plattform auf dem Demonstrationstisch, mit drei armdicken Kabeln, und über ihr ein kaum sichtbares kantiges Flimmern. — Dann allerdings kam, und rasch, die Spannung der Neugier, dies untilgbare Menschenrecht. Sie war, diese Neugier, vor allem Schaulust, ganz ungeschlacht, wie vor einem Boxkampf, wo man auf derbes Geschehen aus ist und aufgeplatzte Nasen erwartet und das Stürzen des niedergeschlagenen Mannes. In dieser Erwartung trafen sich Herren und Damen; bei Pavlo — doch davon vielleicht wirklich erst später. Das Schnurren der Oszillatoren verstärkt sich, das Geflirr der Heliumdrähte, in einen Morgen verdämmernd, wird zur erschauernden Aura der Botschaft, daß das alte Licht von zweitausend Jahren zu seinem Planeten zurückzukehren sich anschickt; an ihren Rändern zerstäuben Blitze in lautloser Demut, und

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