Saiäns-Fiktschen
schien. Seine Waffen waren nicht zu erblicken; er hob seine nackten Hände und lachte, und Pavlo sah über der drängenden Menge den Scharlachkegel der Haube sich nahen, und er bemerkte erst jetzt, daß die Dame ritt. Sie thronte halbquer auf einem Zelter; im Tritt des Tiers schien sie zu schreiten, riesenhaft in der Farbe des Meeres, und Pavlo war verwirrt wie nie. Er versuchte, mit fahrigen Griffen, die Dame wieder in seine Nähe zu schrauben, doch er schaute, wenn die Menge sich auftat, höchstens eine Spur des Gewandes, die sogleich zwischen Stahl und Seide verscholl. Auf diese Weise sah Pavlo nur Dinge: eine Knopfreihe aus Jaspis, einen Sporn, eine Zobeltasche, doch nicht die Dame, nicht den Seegrafen, nicht den Toul, nicht den Intendanten (den, vor dem Blau um die Lilien Frankreichs, auf einer Tribüne hinter dem Kampfplatz Pavlo für einen Moment erblickt hatte).
Er ließ also die Rohre fahren und sah nun als unteren Saum des Zeitzeigekastens die Szenerie schmal wie eine Borte, die Menschen, die durch den Vordergrund trieben, gerade noch als einzelne kenntlich; und er war dennoch bis zum Wahnsinn erregt. Was ihm derart zusetzte, war nicht so sehr das verborgene Nah-Sein der Jeanne Viole, deren Scharlach weiter zum Himmel zuckte, es war — wir können es nicht oft genug wiederholen —, es war die Möglichkeit jeden Geschehens, unbegrenzt, wie Sehnen wäre, wüchse es nicht in Verkümmerung auf. — Im Gefüge des wirklichen Nur-Einen die Möglichkeit von Möglichkeiten als Möglichkeit eines Anderen: Pavlo erfuhr sie zum ersten Mal, als Betroffensein von etwas Unfaßbarem, das, sich allen Worten entziehend, als Grauen wie Lust eines Ahnens aufdämmerte, sie könnte und könne, diese vollzogne Geschichte, sich in einer anderen Weise vollziehen, als Uniterrs Historologie sie festgelegt und man sie daher auch erwartet hat.
Was aber hatte Pavlo zu schauen erwartet?
Er hätte es nicht zu sagen vermocht, obwohl er es gleich doppelt wußte, und eben darin liegt die Schwierigkeit.
Gleich allen seinen Kommilitonen teilte, selbstverständlich, Pavlo die offiziöse Hypothese, die Uniterrs Historiker vom Ausgang des Duells entworfen, nämlich der eines Sieges von Toul, den dann die Chronisten verschwiegen hätten. Dies einerseits. Andrerseits widersprach solch ein Ausgang, der Sieg eines Niederen über einen Oberen, der offiziellen Geschichtsdoktrin Uniterrs, die besagte, daß vor der Schaffung der Wahrhaft Befreiten Gesellschaft alles Geschehen nur den Oberen diente, nur ihnen zu nutzen und frommen hatte und deshalb in jeder Einzelerscheinung von ihnen im Ablauf vorprogrammiert war (wogegen, in zahllosen unterdrückten Anläufen, die Völker in wachsendem Maß sich empört und — leider bislang nur auf einem Teil des Planeten — die Wahrhaft Befreite Gesellschaft errichtet, in der es kein „Unten“ und „Oben“ mehr gab). Diese Lehrmeinung („Wahrhaft Wahre Geschichte“) herrschte dermaßen ausschließlich, daß sie in ihrer Formulierung schon gar nicht mehr ins Bewußtsein trat, wiewohl sie es vollkommen bestimmte: Sie stellte die einzig mögliche Form dar, in die historisches Denken gerann, und dies geschah in den meisten Fällen auf Kosten jeglicher Anschaulichkeit. Demgemäß, gleich allen seinen Kommilitonen, war Pavlo der gänzlich unreflektiblen Gewißheit, daß so ein Duell, noch ehe es begonnen, als ein Kampf zwischen einem Höheren und einem Niederen schon zum Sieg des Höheren entschieden sein mußte und daß, falls der Kampf nicht von selbst dahin führe (also der Seegraf nicht auch der Kampftüchtigere wäre), dann Ordner, Sekundanten und Schiedsgericht durch betrügerische Manipulationen (es gäbe da gewiß tausendfache Erfahrung zur Ablenkung des Bastards oder zu dessen Behinderung) den Sieg des Oberen realisierten. Offiziöse Behauptung vom Sieg des Toul und offizielle Doktrin von der Vorbestimmtheit allen Geschehens durch die Oberen waren miteinander nicht zu vereinen; was hatte Pavlo also erwartet? Wenn man das Wort „erwarten“ nicht im Sinne eines (in Uniterr gänzlich ungeläufigen) konkreten, anschaulichen Sich-Vorstellens versteht, sondern im Sinn einer vorgegebnen Gewißheit des Kommens dessen, was kommen müsse — man könnte auch „Erwartungslosigkeit“ sagen —, dann beides; aber eben nur abstrakt, nicht konkret, und — da nicht von Anschaulichkeit geleitet — den Widerspruch überhaupt nicht bemerkend. Das klingt unglaublich, allein es war so, oder vielmehr: Es wird so
Weitere Kostenlose Bücher