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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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sehr wohl ein Grund besteht, sie zu haben, wenngleich man diesen Grund noch nicht kennt.
    Da Janno die Angst gespürt und ahnend gewußt, daß sie eine tiefere Ursache hatte, war ihm eine Melodie in den Sinn gekommen, einer der schmachtenden Sehnsuchtstangos, die allzeit unausrottbar sind: Schwarz dein Haar deine Lippen so rot. Er hätte diese Melodie als Zeichen genommen, daß sein Selbstermuntern jene Angst überwunden, wäre sie nicht auch ein Zeichen gewesen, daß jene Angst aus Bezirken stammte, wo man sie nicht vermuten kann. Dennoch begann er die Melodie zu summen. Es ist dies die Form des Galgenhumors eines noch nicht verurteilten armen Sünders, der, unwissend, daß er zum Galgen geht, den fernen, flatternden Flug der Raben als schwarze Augenweide schaut, die ihn sowohl ergötzt wie erschreckt. Natürlich geschah Janno dies nicht in der Form von Kalkülen, sondern als Empfinden sonst unbemerkter Empfindung, schon mehr als ein Reflex, doch noch nicht Reflexion. Janno war verdüstert und begann zu trällern, beides durchaus ein Alltagsverhalten, doch da es an seine Selbstsicherheit rührte, empfand er es als lästige Störung des beginnenden Arbeitstags.
    Er gedachte daher mit einem Ruck diese mißliche Situation zu beenden, doch da er, diesen Entschluß zu realisieren, mit einem Satz aus dem Bett springen wollte, befiel ihn ein so dumpfes Magendrücken, wie er es nur nach durchzechten Nächten (deren es übrigens nicht mehr als fünf gab) gekannt. Er plumpste wieder aufs Bett zurück, saß eine Weile reglos stöhnend, erhoffte Erfrischung durch kaltes Wasser und fand immerhin jene Ernüchterung, die einem Kraft gibt, sich nicht gehenzulassen. Die Übelkeit blieb zwar fast ungemindert, die Melodie jedoch war aus dem Gedächtnis und die Angst aus den Bezirken darunter geschwunden, und so sah Janno keinen Grund, von seinem Tagesplan abzustehen, der nach dem üblichen Spaziergang ein Wiederholungsstudium in den Werken der Kameraden Klassiker, danach die Zubereitung des Mittagessens und, nach erneuter Klassikerlektüre, zum Abend einen Kinobesuch und möglichst frühe Nachtruhe vorsah.
    Janno war kaum aus dem Haus, da begegnete ihm auf dem ovalen, von Wohnhochhäusern umragten Platz ein Professor der Fakultät, an der er sich beworben hatte. Sie wohnten nicht nur im selben Haus, sondern auch in derselben Etage, und so waren sie einander so bekannt, wie Etagennachbarn einander bekannt sind: man weiß Aussehen und Namen, vielleicht den Beruf, und rümpft die Nase über irgendeine Äußerlichkeit, die man für charakteristisch hält: beim Professor einen faden Geruch nach Fisch, der stets aus seiner Kleidung strömte.
    Ob er — wie war doch gleich der Name? — nicht Freitag zur Bewußtseinserhebung bestellt sei? fragte, während Janno noch grüßte, der Professor, übrigens ein berühmter Teleologe, dem Uniterr die Lehre vom Angelegtsein staatlicher Ordnung im Bau der Moleküle verdankte. — Janno stotterte mehrfach „Jawohl!“ und „Janno“ (seine Kennummer stand ja auf seiner Jacke) und bemühte sich, dabei zu lächeln und, trotz seiner Magenschmerzen, den Professor anzusehn. — Der Professor, so schien es, musterte ihn. Es entging Janno nicht, daß seine Antwort befangen und sein Lächeln frostig wirken mußten; die Übelkeit, an der frischen Luft abgeklungen, kehrte in alter Stärke zurück. Der Professor räusperte sich. Merkte er, daß der Bestellte die Prüfung fürchtete? Der wünschte über alle Maßen, dem Professor so frei gegenüberzutreten, wie es seinem reinen Bewußtsein entsprach, doch die Magenschmerzen krümmten ihn. Auf dem groben Beton standen schmutzige Pfützen; in einer schwamm ein totes Insekt, grau im gespiegelten grauen Beton, in dem nun auch Jannos Gesicht erschien.
    Der Professor tippte ihm auf die Schulter; Fischgeruch; Janno wurde davon noch übler. Plötzlich dachte er, daß Philosophie so rieche, doch dieser Gedanke, oder besser: die Tatsache, einen solchen Gedanken denken zu können, entsetzte ihn nicht; er nahm beides hin wie sein Magendrücken, im Gefühl vollkommener Hilflosigkeit, und plötzlich kam ihn die wahnsinnige Vorstellung an, daß sein Gehirn ein Eigenleben habe, ein Tier, in seinem Schädel hockend, mit eigenem Atem, eigenem Wollen, alle Gehirne dieser Stadt, dieses Landes, eingeschlossen in knöcherne Mauern, unergründbar, böse, unersättlich. — Ein schwarzer Blitz. — Der Professor nahm die Hand von Jannos Schulter —: ahnte er, was der Prüfling da

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