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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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schauen gegeben, da sei dem Freund aber Tolles entgangen, da habe es aber Überwindung gekostet, die Kameras noch in Ruhe zu führen! — Und in den Traum des Erinnerns versinkend, zeichnete der Bekannte mit schwingenden Gesten ein paar Formen in die Luft. — Seliges Lächeln; reines Glück.
    „Und dann?“ fragte Pavlo; der Träumer schrak auf: ja, dann habe es wohl etwas auf der Tribüne gegeben, im Gedränge der Bewaffneten um den Intendanten, aber das habe er selbst nicht gesehen, sein Filmbezirk sei die Grube gewesen, in der — das habe er vergessen zu sagen — ein entmenschter Haufen den Seegrafen zertrampelt; und dann fragte er wieder, ob er, Pavlo, verstehe, daß ein Volk, sichtbarlich nicht unterdrückt, vielmehr lichten Tags in Waffen dahergehend, sich aus diesem Nicht-Unterdrücktsein erhebe, um das Banner des Königs zu entfalten, als ob dies ein Banner der Freiheit wäre: der Student der Geschichte müsse ihm das erklären! Und näherrückend sagte der Bekannte, er habe morgen in der auswertenden Schulung einen Diskussionsbeitrag zu bringen, da müsse der Freund ihm Hilfestellung geben: Wie denn die Wahrhaft Wahre Geschichtswissenschaft diese verrückte Geschichte einschätze?
    Pavlo wollte mürrisch abwehren, da schob ihm der Freund eine Flasche zu, und da sagte Pavlo wie nebenbei, es gebe zwar eine gültige Einschätzung, die gültigste, die man nur haben könne, doch die sei, eben darum, streng intern; und als der Freund ihm die zweite Flasche zuschob, teilte, ebenfalls nun die Stimme dämpfend und mit dem deutlichen Gefühl des Unlauteren, Pavlo seinem Freund die Einschätzung mit, die der OK-Rat getroffen; und der Filmoperateur rief erlöst: das sei es! vergangen und finster, das erkläre ja alles! und endgültig überwunden, das treffe!, und dann beeilte er sich zu gehen, und Pavlo blieb allein und trank.
    Er trank, daß ihm die Dame erscheine; er suchte ihr Meergrün in der Farbe der Flasche, doch er sah nur das Grün des Kunststoffbehälters um das Kunststoffprodukt W 4, das er widerwillig in sich hineintrank, und im Zwang des Trinkens, am Tisch, schlief er ein. Auch im Schlaf erschien ihm die Dame nicht; es war ein dumpfes, vergiftetes Dämmern, gefolgt von Übelkeit und Ermattung am nächsten Morgen doch da Pavlo nicht ins historische Seminar ging — er nahm (fälschlich) an, er sei als Gasthörer gestrichen, vielleicht überhaupt schon exmatrikuliert —, trank er, um die Übelkeit niederzuzwingen, gierig den Rest der zweiten Flasche und ging dann am hellichten Tag ins Bett.
    In diesem Schlaf erschien ihm die Dame, wenngleich nur einen Augenblick. Er stand in der Grube, sie schritt heran; er sah ihr Meergrün und sah den Scharlach ihrer wippenden Schnabelschuhe in ungeheurer Verheißung nahen und reckte sich, ihr Gesicht zu schauen, doch das lag unerschaubar hoch. So beugte er sich denn demutsvoll zum Saum des Meergrüns über dem Scharlach, da wallte beides auseinander, und die Zwergin stand vor ihm. Pavlo erstarrte vor Entsetzen, er wollte mit der Faust nach der Zwergin stoßen, doch er konnte den Arm nur ganz langsam bewegen, und er wollte schreien: geh weg! geh weg!, doch er brachte nur ein Winseln heraus. Die Zwergin stand breitbeinig da, die nackten Füße nach außen gedreht, und Pavlo sah auf ihre Füße, er fürchtete sich vor dem leeren Auge ohne Lid und ohne Brauen; er sah auf die nackten, gespreizten Füße, und die Zwergin raffte den Rock. Ein grüner Rock, fahltangiges Grün, Pavlo wollte wegsehn und konnte auch dies nicht und sah die Zwergin den Rock hochheben, die nackten Knöchel, die nackten Waden, die nackten Knie, die nackten Schenkel, ein bleiches, wässeriges Fleisch um die Knorpelwülste der Gelenke, und die Zwergin hob den Rock höher und höher und drehte Füße und Knie immer weiter nach außen, und Pavlo, voll gierigen Widerwillens, folgte dem unbegreiflichen Schauspiel, und nun entblößte im haarlosen Schoß die Zwergin das leere Loch der Pupille, ein saugendes Auge, es schwamm auf ihn zu, und da begann es Pavlo zu grauen, und das Auge der Zwergin schwamm in das seine, und in der Berührung wachte er auf. — Brechreiz; Schweiß; Durst; er wankte, sich zu waschen, da sah er entsetzt, daß es heller Tag war, und er schwor, nie mehr im Leben zu trinken, da stieg ihm die Übelkeit aus dem Magen und er sehnte sich nach einem Schluck Schnaps; ihm schwindelte, und er mußte sich setzen und starrte ins Grün der leeren Flaschen und grübelte, wie er sich Geld

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