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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fühmann
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immer gestört war, ohne Murren die kurze Strecke zu seiner, der zweiundzwanzigsten Etage hinan; öffnete, wobei, er automatisch den Anwesenheitsmeldemechanismus bediente, die ihm als außerordentliche Anerkennung seines Lerneifers zugesprochene Zelle (sonst wohnten Schüler in Sammelräumen), setzte sich ans Arbeitsbrett unter der hochgeklappten Pritsche, knipste sein Lesegerät (Nr. 4) an, das ihm eine völlig freie Auswahl unter allen Texten des Lehrstoffs erlaubte, und gab sich ganz dem Studium hin.
    Der Vormittag verging wie im Flug, und als auch der Mittag tätig so hingegangen, beschloß Janno in dem Erfolgsgefühl, sieben wichtige Paragraphen Staatsbürgerlehre kongruent in den Worten der Klassiker zu wissen, sich, anstatt seine Mittagskonserve zu wärmen, und zumal da er noch drei Verzehrbons besaß, einen Imbiß im Restaurant zu gönnen, und so machte er sich dorthin auf den Weg. Er gab, um die Wohnzellentür öffnen zu können, Aufenthaltsort und Abwesenheitsdauer in den Abmeldemechanismus ein, stieg die zweiundzwanzig Treppen wieder hinunter und dachte, als er aus dem Haus trat, daß der Professor, dem er morgens begegnet, möglicherweise die Bewußtseinserhebung vornehmen könnte, und er dachte sofort hinterher, und eigentlich noch im ersten Gedanken, daß man sich auch an Fischgeruch gewöhne, ja daß der in Wahrheit gar nicht so arg sei.
    Da Janno das Restaurant betrat, hörte er wieder die Melodie, zugleich fiel sein Blick auf den Musikautomaten, dessen Fünfnummernrepertoire gerade ein Gast bewegte, und plötzlich überkam Janno das Gefühl, genau dieselbe Situation schon früher einmal erlebt zu haben: dieses Lokal; dieser Automat; dieser Gast; er selbst. — Janno hatte dies hundertmal gesehen, und doch spürte er diesmal im Gleichen ein Andres, das ihn tief beunruhigte. Kaum daß er am zugewiesenen Platz saß, fühlte er wieder die Übelkeit; nun hätte er einen Schnaps trinken können, aber jetzt fürchtete er sich davor. — Schwarz dein Haar deine Lippen so rot —: Es waren die angenehmsten Erinnerungen, die diese Worte wecken mußten, das erste Schmachten, die erste Erhörung, aber dennoch wankte Janno hinaus, mürb im verläßlich gewußten Ahnen, daß er bald die Ursache seiner Ängste erkennen und diese Erkenntnis ihn vernichten werde.
    Und da überkam ihn ein Bedürfnis zu schreien.
    Frische Luft; die Straßen belebter; die Rollbahnen wurden eingeschaltet; Verkehrslampen leuchteten durch die Schluchten; die Volksschützer mit ihren Fanggeräten, und Janno tauchte in die Menge, die den Ämtern und Betrieben entquoll. Allmählich kam er wieder zu sich, und der Abend verging ohne Mitteilenswertes. Janno aß, und gleich für zwei Verzehrbons, also zweitausend Brennstoffeinheiten, in irgendeinem Restaurant, trank dort auch einen Schnaps, ging in ein Kino, duschte, schlief leidlich, erwachte ohne böse Vorahnung und ohne einen Traum zu erinnern und begann, auf den Morgenspaziergang verzichtend, sofort das geliebte Studium.
    Diesmal jedoch kam er mühsam voran, und bald trat er auf der Stelle. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren; wo er hätte Lehrsätze memorieren sollen, erinnerte er Melodien, und zwar so hartnäckig nicht jene verstörende, daß er bemerken mußte (und auch bemerkte), wie er sie unbewußt umkreiste. — Es war ein Abnutzungskampf gegen sich selbst: Janno fühlte im Mühen des Sich-Konzentrierens, daß er mehr von bereits Gelerntem abbaute, als daß er dem Gedächtnis half. Was wirkte da gegen seinen Willen, was dachte da gegen sein Denken an? Ob es bei den Kameraden Klassikern etwas über diese Erscheinung gab? Aber er kannte doch, was sie darüber geschrieben, das war völlig klar und auch ganz einfach: Der Mensch war ein denkendes Wesen, und sein Denken entweder falsch oder richtig; war es richtig, war alles in Ordnung, und war es falsch, war es durch Schulung so lang korrigierbar, solange nicht die Bösartigkeit eines bewußten Willens zum Falschen oder die psychische Anomalie starrsinniger Unbelehrbarkeit vorlag —: der erste Fall gehörte in die Kompetenz der Justiz, im zweiten Fall war es Irresein und gehörte in die Psychiatrie. Dies alles hatte er doch gelernt; was focht ihn an, daran zu zweifeln? — Aber er zweifelte ja nicht; er fragte ja nur. — Aber war dies Fragen nicht schon ein Zweifeln? Wenn etwas klar ist, fragt man doch nicht. — Janno fühlte sich in zwei Jannos gespalten, von denen nur einer der rechte sein konnte, allein welcher war er

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