Sakramentisch (German Edition)
Gutachter, Sachverständige, Pathologen, Dermatologen,
sonstige Mediziner, sogar ein Hellseher von der Isle of Man waren hinzugezogen
worden. Sie sollten klären, warum auf der Innenseite der fraglichen Gegenstände
keine Täterspuren nachgewiesen werden konnten. An der Innenseite, an der sie
getragen worden waren und an der Hautpartikel, Haare, Schweiß, Speichel,
Stoffreste, Hustenbonbons, jede Menge Bakterien, Mikroben und sonstige Tierchen
hätten kleben müssen. Und wenn das Untersuchungsergebnis schon bei null lag,
wie hatten die Täter es dann geschafft, in der ihnen zur Verfügung stehenden
Zeit die Anzüge so blitzartig schnell von allen Spuren zu befreien?
Die kriminalwissenschaftliche Welt stand kopf.
Am selben Tag, als Hadi Yohl während seines winterlichen
Nachtspaziergangs über den nächsten Überfall sinnierte, saß Rico Stahl in
seinem Büro im Polizeipräsidium Rosenheim. Das Fenster zur tief verschneiten
Lorettowiese hin war einen Spalt geöffnet. Ein leichter Wind aus Norden blies
Pulverschnee über die Dächer der geparkten Autos, die in kilometerlangen
Zehnerreihen auf der Herbstfestwiese geparkt waren. Es war kalt und sonnig, und
es war elf Uhr in der Früh.
Rico Stahl, der Leiter der Soko Dirndlüberfall, als Chef der
Mordkommission arbeitslos geworden, weil Morden in Oberbayern offensichtlich
ausgestorben war, blätterte an diesem Samstag beiläufig die Stellenanzeigen in
der Süddeutschen durch.
Ihm, als früherem BKA -Agenten, war der
Ruf vorausgegangen, eine Art bayerischer James Bond zu sein. Während seiner
Zeit im BKA hatte das auch noch gestimmt. Er
konnte fliegen und schießen, Rennen fahren und Frauen verführen, Wände senkrecht
hochgehen und waagrecht übers Wasser laufen. Nach seiner Berufung zum Mordchef
in Rosenheim hatte er nur einen einzigen Fall in gewohnt kurzer Zeit zu lösen
gehabt, den Mord am Filmstar Clara Gray. Das war aber auch alles. Selbst seine
olympiareife Begabung im Tornadosegeln versandete in einer Einheitsjolle am
Chiemsee.
Rico Stahls Anzüge waren dunkler geworden, die Krawatten grauer,
selbst die Schuhe glänzten nicht wie früher. Dunkelhaarig, groß gewachsen und
athletisch, wirkte er kaum älter als die einundvierzig, die er war. Selbst die
Narbe im Mundwinkel, die sein Lächeln immer etwas schief geraten ließ, empfand
er mittlerweile als hässlich, um nicht zu sagen lästig. Im Dienst jedoch war er
immer noch positiv eingestellt und ganz bei der Sache.
Rico saß mit leicht gespreizten Beinen hinterm Schreibtisch und
spielte mit der Dienstwaffe. Er drückte mit dem Daumen den Sicherungshebel am
Griff und entspannte den Hahn, spannte ihn, entspannte ihn. Bei diesem Tun war
er voll konzentriert, doch in seinem Kopf war Kabelsalat.
Auf eines konnte Rico sich gewöhnlich hundertprozentig verlassen:
auf seinen sechsten Sinn.
Rotkehlchen und Brieftauben beispielsweise besitzen einen
Magnetsinn, den Rico Stahl nicht besaß. Klapperschlangen verfügen über einen
besonderen Wärmesinn, den Rico nur zum Teil hatte, und Zitteraale erkennen im
Dunkeln ihre Gegner, indem sie wahrnehmen, wie elektrische Felder sich
verändern. Auch auf diesem Gebiet war Rico völlig machtlos.
Doch wenn in einem Puzzle ein Teil fehlte oder falsch lag oder nicht
passte, dann war er in seinem Element. Im Dirndlüberfall-Fall waren alle Teile
vorhanden, doch zwei oder drei waren falsch platziert.
Aber welche? Und an welcher Stelle?
Es war zum Beispiel vollkommen absurd, dass sie absolut nicht
herausfinden konnten, ob die Handgranate, die sie dem Gachinger unter die Nase
gehalten hatten, echt gewesen war oder ob es sich um eine Attrappe handelte.
Die Rosenheimer Spurensicherung mit dem alten Hasen Bruni an der Spitze war die
beste der Welt. Doch an der definitiven Aussage, ob echt, Attrappe oder nicht,
waren sie bisher gescheitert.
Und da war noch etwas, das in Ricos Hinterkopf herumgeisterte. Es
leuchtete wie ein Fixstern in rabenschwarzer Nacht. Noch konnte er sich kein
Bild davon machen, um was es sich handelte. Doch er würde es herausfinden.
Er warf einen Blick auf die Uhr, stand auf, stopfte die Pistole ins
Halfter und wischte sich mit der Handfläche den Schweiß von der Stirn.
Er verließ das Zimmer und schloss ab. Sein Blick huschte kurz durch
den Flur, nachher durch die Eingangshalle des Präsidiums, in der sich das
Sonnenlicht sammelte. Er wollte nicht gesehen werden. Niemand schien da zu
sein. Dann stieg er die Stufen hinunter zu seinem Dienstfahrzeug, startete
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