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Sakramentisch (German Edition)

Sakramentisch (German Edition)

Titel: Sakramentisch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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kleinen Teich, über dessen Eis ein Stockentenpärchen eng
aneinandergedrängt mühsam watschelte. Als er den Skilift ein Stück weit
entfernt hörte, dämmerte ihm langsam die rettende Idee. Vor Anstrengung musste
er keuchen, doch es tat ihm gut, und die scharfe, kalte Luft tat ihr Übriges.
Das Dämmern im Gehirn wurde zu Licht, in seinem Kopf begann es zu kochen, und
als er wieder auf dem Heimweg war, wusste er genau, was zu tun war.
    Das Glockengebimmel in seinem Rücken hörte er zu spät. Besser
gesagt, als er es hörte und sich erschreckt umdrehte, war der Schlitten schon
von hinten in ihn hineingerast.
    »Huiiiii!«, rief die junge Frau und nahm ihn mit.
    Sie umklammerte seinen Oberkörper, er umklammerte den Rahmen des
Holzsitzes, und zwanzig Meter weiter wälzten sich beide vereint im tiefen
Schnee und wurden nur vom dürren Geäst eines Baums von einem Abgrund
ferngehalten.
    »Spinnen Sie?«, zischte Hadi hinter einem Schneeball hervor, der
sich in seinem Mund gesammelt hatte.
    »Wieso? Ich find’s schön«, rief die Frau. »Huiiiiiii!«
    Mit dicken Fäustlingen strich sie ihm den Schnee aus dem Gesicht und
klopfte ihm die Eiszapfen aus dem Haar.
    Hadi betastete seinen Körper. Er schien in Ordnung. Bis er merkte,
dass er ihren Körper betastet hatte, nicht seinen.
    »Kleiner Lastenausgleich, wie?«, sagte sie und lachte sprudelnd,
wobei sie zwei Reihen blitzblanker Zähne freilegte. »Kommen Sie, wir müssen
hier weg. Sonst folgen wir dem Schlitten.«
    Sie deutete nach unten. Hadi registrierte eine kurze Spur und
aufgewirbelten Schnee. Der Schlitten war weg. Er war in den Abgrund gerauscht.
    Hadi hinkte, als er sich endlich mit ihrer Hilfe aufgerappelt hatte.
Sein rechtes Knie funktionierte nur schleppend.
    »Macht nix«, rief sie fröhlich. »Kommen Sie. Gehen wir eben zu Fuß.«
Sie sah ihn an. Wieder dieses übermütig-scheppernde Lachen. »Oder soll ich Sie
tragen? Wiegen Sie mehr als sechsunddreißig Kilo? So viel wiegt mein Hund, und
den schaff ich spielend.«
    Nach dem Schreck war der Zorn gekommen, auch darüber, wie leicht die
Frau die Sache nahm. Keine Entschuldigung, kein gar nichts. Doch er konnte ihr
nicht böse sein. Im Gegenteil.
    Er sah sie aus schmalen Schlitzen an. Das Erste, was ihm auffiel,
waren ihre Augen. Sie waren von einem so durchscheinenden Grünblau, dass er an
von einem Gebirgsbach glatt geschliffenes Glas denken musste. Ihre Iris war ein
goldener Ring. Das Gesicht war von einer bunten Strickmütze halb eingehüllt. Er
war überrascht, wie außergewöhnlich symmetrisch es war.
    Eine Zeit lang versuchte er, sich allein auf den Beinen zu halten.
Doch er kam nicht weit. Als sie vor ihm herging, tat sie das mit dem lässigen
Gang, der typisch ist für Menschen, die keiner regelmäßigen Beschäftigung
nachgehen. Ihre Hüften wiegten sich träge unter einem grellweißen Anorak, der
hinten ein schwarzes, undefinierbares Muster hatte.
    Er musste sich setzen. Ihm war schwindlig geworden. Er sah eine
Schneeflocke vor sich niederschweben, dann eine zweite, eine dritte, dann
wieder viele. Hadi blieb ruhig sitzen, er spürte die nassen Flocken auf Gesicht
und Händen. Es schneite lautlos, das Gestöber der dicken Flocken füllte den
Raum zwischen den Baumstämmen und über dem Weg, auf dem er saß. Die weibliche
Figur vor ihm entfernte sich und löste sich in einem schwachen Grau auf.
    »Hey, wo bleibst du?«
    Er hatte Mühe, ihr Rufen zu verstehen. Das Du schien ihm
selbstverständlich. Mit beiden Händen stützte er sich ab, um hochzukommen. Da
stand sie neben ihm und zog ihn in die Senkrechte.
    »Wie weit muss ich dich schleppen?«, fragte sie.
    Erst jetzt bemerkte er ihre gepflegt rauchige Altstimme.
    Sie legte ihm einen Arm um die Hüfte und stützte ihn mit dem
anderen.
    Er wehrte sich nicht. »Was war doch noch gleich mit dem Schlitten?«,
fragte er, nur um etwas zu sagen.
    »Huiiiiii«, juchzte sie. Für zwei Sekunden ließ sie ihn los und
warf, umwirbelt von Schneeflocken, die Arme in die Luft.
    Eine perfekte Romanfigur, dachte Hadi. Mindestens. Er nahm sich vor,
sie zu skizzieren, sobald er im Hotel war.
    Für die kurze Strecke benötigten sie mehr als eine halbe Stunde. Er
genoss die Zeit und ihre Wärme. Sie lieferte ihn in der Halle des Garstigen Bär
ab.
    »Ciao«, rief sie ihm zu, »ich heiß Pauline. Auf französisch ›Polín‹,
mit Betonung auf der zweiten Silbe. Und wie heißt du?«
    Sie wartete drei Sekunden.
    Er blieb die Antwort schuldig.
    Sie küsste ihn mit

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