Sakramentisch (German Edition)
Südfrüchten.
Er schaltete das elektrische Feuer im Kamin ein. Die
Holzscheit-Attrappen begannen sofort zu glühen.
Dann packte er den Laptop und den Drucker aus, öffnete einen
Reißverschluss am Koffer und griff sich den inhorgenta-Katalog, eine Straßenkarte,
einen linierten Block und einen Stift. Er warf alles aufs Bett und setzte sich
mit dem Rücken zur Wand daneben. Es war die Stellung, die er gern einnahm, wenn
er einen neuen Roman entwarf. Nur würde es diesmal kein fiktives Verbrechen
sein, sondern eines aus Fleisch und Blut.
Hadi, äh, Chris Brandenburg leckte sich die Lippen. Auf geht’s,
sagte er leise und setzte den Stift an.
Wenn Rico Stahl den ersten Überfall erfolgreich bearbeitete,
würde es keinen nächsten geben. Rico hatte sich eingebildet, die Tatsache, dass
die Räuber zwei Garnituren Maskerade verwendet haben mussten, würde ihnen, der
Kripo, weiterhelfen. Doch er irrte.
Jeden Quadratzentimeter in Oberbayern, Niederbayern und in den
angrenzenden österreichischen Bundesländern Tirol, Salzburg und Oberösterreich
hatten sie abgesucht beziehungsweise um Amtshilfe gebeten, um eine Spur von den
Weihnachtsmannanzügen zu finden, die während der Tat getragen worden waren.
Denn im Inneren dieser Maskerade musste es nur so wimmeln von kleinen grünen DNA -Tierchen. Selbstverständlich zog Rico auch in
Betracht, dass die Anzüge und die anderen Teile versenkt, gesprengt, vergraben
oder einfach nur versteckt oder verbrannt worden waren. Aber weiter half es ihm
nicht. Er hätte aus Asche ebenso wenig die Wahrheit zu lesen vermocht wie aus
Kaffeesatz.
Es gab keine Fingerabdrücke. Es gab keinerlei tatrelevante DNA -Spuren. Es gab kein Video, denn der
Dirndl-Gachinger wurde nicht überwacht. Kein Zeuge hatte etwas anderes gesehen
als fröhliche Weihnachtsmänner, auch der UPS -Fahrer
nicht. Und was half ihnen schon die Aussage, der eine der beiden Räuber hätte
einen Pickel an der Backe gehabt? Auf dem Fußboden im Laden hatten sich ein
paar Krümel Dreck eingefunden, doch die konnten von jedem stammen. Und selbst
wenn sie dem Gachinger Wast und seiner Gretel Glauben geschenkt hätten, die
beide felsenfest davon überzeugt waren, dass die Handgranate echt gewesen war –
was hätte es geholfen? Die Täter hätte das auch nicht hergezaubert.
Rico Stahl begann bereits, an Hexerei, Wahrsagerei und Voodoo zu
glauben. Es war zum Verzweifeln. Jeden Agenten, Terroristen, Vergewaltiger,
jeden Mörder und jeden Serienkiller, auf den er angesetzt gewesen war, hatte er
zur Strecke gebracht. Er hatte sich einen fabelhaften Ruf als Mordermittler und
Profiler erworben. Er war über Türme geflogen, hatte Meere durchtaucht und
konnte Wasser in Wein verwandeln.
Doch er war nicht in der Lage, drei weißbärtige Weihnachtsmänner
einzufangen.
Die Soko Dirndlüberfall stand so nackt und jungfräulich da wie ein
Baby von sechs Monaten.
Alles hatte Hadi durchgespielt. Jede mögliche Variante eines
Überfalls im Zentrum der inhorgenta. Karten, Skizzen und Notizen lagen überall
auf dem Boden und auf dem Bett seines Zimmers im Hotel herum. Bücher, Magazine
und alte Zeitungen, die er gesammelt hatte, stapelten sich auf dem Kaminsims
und auf dem Beistelltisch. Den Fernseher hatte er auf den Boden verlagert.
Zwischendurch sammelte er brav alles wieder ein, bevor die Zimmermädchen das
Zimmer sauber machten. Niemand durfte Verdacht schöpfen. Nichts durfte darauf
hindeuten, dass der nette ältere Herr in stiller Abgeschiedenheit ein
Verbrechen plante.
Je mehr Hadi zu den Details vordrang, desto entsetzter war er.
Panikanfälle peinigten ihn. Sein Herz schlug so schnell, als wollte es
zerspringen. Die Informationen, die ihn in dieser Nacht und an diesem Vormittag
ansprangen wie Raubtiere, führten zu einer Orgie der Verzweiflung und der
Selbstaufgabe. So großartig hatte er es sich vorgestellt. Ein Raub mitten in
der Höhle des Löwen. Doch nachdem er das gesamte Material über Tage und Nächte
gedreht und gewendet hatte, kam er zu dem Schluss, dass ein Raubüberfall im
Inneren der Schmuckmesse aussichtslos war. Sie hätten keine Chance, ein Scheitern
wäre vorprogrammiert. Das reinste Harakiri.
Der Bergwind war heftiger geworden. Wenn Hadi spazieren ging, um
neue Gedanken zu fassen, strich der Wind messerscharf über sein Gesicht und
durch seine Haare. An diesem Morgen marschierte er ein geräumtes, schmales
Sträßchen bergaufwärts, auf dem der Schnee nur eine Handbreit hoch lag. Er kam
an einen zugefrorenen
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