Sakramentisch (German Edition)

hatte, betraf nur
Danksagungen. Danksagungen auf Glückwünsche, Grüße, Wünsche und Geschenke, die
ihn und Lola zu Weihnachten erreicht hatten. Immer noch kamen Melodiekarten, E-Mails
mit geheimnisvollem Anhang, süße Plüschhündchen und englischsprachige
Paperback-Gifts wie »Indian Torture Slaying« vom Optimist-Verlag oder »Gedanken
zum Fest der Beschneidung Christi« vom Tränen-Verlag zum Vorschein, auf die er
noch reagieren musste. Allein damit hätte er schon genug zu tun gehabt.
    Doch der Polizeipsychologe kehrte sein Innerstes nach außen. Joe
Ottakring hatte gar nicht gewusst, wie sehr er selbst jetzt im reifen Alter von
Mutter und Vater abhängig war und wie viel Respekt er ihnen noch schuldete,
obwohl sie beide längst tot waren. Was aber das Bedeutendste und Erstaunlichste
war: Bisher hatte er sich immer für einen relativ unproblematischen, geradeaus
und einfach denkenden Menschen gehalten. Doch dieser Mann verlieh ihm zum
ersten Mal in seinem Leben das erhabene Gefühl, ein kompliziertes Wesen zu
sein.
    »Wenn Sie diesen Sprengstoffgürtel nicht hätten tragen müssen, wäre
dann Ihr Leben anders verlaufen?«
    »Hatten Sie schon jemals das Gefühl, ein Versager zu sein?«
    »Wachen Sie öfters nachts schweißgebadet auf, weil Sie von Ratten
träumen, die Sie anknabbern?«
    »Können Sie Ihre Frau umarmen, ohne gleich an Sex zu denken?«
    Für Ottakring war schon nach der zweiten oder dritten Sitzung klar:
Dieser Mann betreibt eine Wissenschaft, die seinen Patienten Dinge lehrt, die
er längst weiß, in einer Sprache, die keiner versteht.
    Mehr Sorgen bereitete ihm Lola.
    Seit den Ereignissen auf Malta waren sie beide wie verändert. Ihre
unendliche Vertrautheit hatte sich in distanzierte Höflichkeit verwandelt, das
vorher Unausgesprochene musste ausgesprochen oder verschwiegen werden. Manchmal
bewegten sie sich wie Fremde nebeneinanderher.
    Selbstverständlich hatte Ottakring in Erfahrung gebracht, wer der
Mann war, mit dem sie sich in dem maltesischen Restaurant getroffen hatte.
Dieser Dierk Weimar war Redakteur beim Bayerischen Rundfunk und hatte
tatsächlich wegen einer Dokumentation in Valetta zu tun gehabt. Doch nie würde
Ottakring die Blicke vergessen, welche die beiden geteilt hatten. Dieses
Händchenhalten bei einem sogenannten Geschäftsessen war nichts anderes als ein
Ruhekissen der Leidenschaft.
    Seine Lola! War es ihr mit ihm zu langweilig geworden? Hatte er sich
zu wenig um sie gekümmert? Wollte sie ihm etwas beweisen?
    Lola hatte den Hang, übers Ziel hinauszuschießen, das wusste er aus
über zehn Jahren Erfahrung. Selbst nach all diesen Jahren war er sich noch
immer nicht klar darüber, ob das ein Laster oder eine Tugend war. Feststand,
dass es zu ihren unveränderlichen Charakterzügen gehörte. Als er sie damals zur
Rede stellte, hatte sie diesen wild entschlossenen Blick bekommen, der für sie
in solchen Situationen typisch war. Seine Stimme allerdings hatte scharf und
gehetzt geklungen, was wiederum typisch für ihn war. Er konnte sich nicht
verstellen und trieb allein mit seinem Ton oft Leute zur Weißglut.
    Über sein Verhältnis zu Lola hätte er gern mit dem polizeilich
gestellten Psychologen geredet. Doch seine privaten Probleme wollte er da
heraushalten. So sprachen die beiden zweimal in der Woche weiterhin über die
Angst des Kriminalrats vor der Sprengung.

NEUN
    Was die Messe Hannover für die Technologie, ist die
inhorgenta für die europäischen Juweliere. Einmal abgesehen von russischen oder
ukrainischen Schrankkoffern, dürfte diese Fachmesse die wertvollste Anhäufung
von Schmuck, Uhren, Gold, Silber, Platin, Perlen und Edelsteinen auf engem
europäischen Raum sein.
    Und das vor unserer Haustür in München, sagte sich Hadi
kopfschüttelnd zum x-ten Mal. Er war noch nie auf der Messe gewesen. Er hatte
nicht einmal ihren Namen gekannt. Inhorwas? Wie und warum auch? Das war
wirklich kein Platz für einen unterschätzten und unterbezahlten
Kriminalschriftsteller. Er hätte sich verloren gefühlt.
    Nun aber, mit leichter Verzögerung und wuchernden Plänen im Hirn,
fühlte sich die inhorgenta auf einmal ganz anders an. Ungefähr so, als würde er
an einer Höllenmaschine herumspielen oder mit drei Stangen Dynamit in der Tasche
einen zerklüfteten Berg besteigen. Wobei Hadi Wert darauf legte, festzustellen,
dass es ihm nicht um den Nervenkitzel ging.
    Erstens wegen Artur.
    Zweitens handelte es sich um eine praktizierte, mordlose
Krimihandlung.
    Wie beginnt man