Sakramentisch (German Edition)
kalten Lippen und warmer Zunge auf die
Nasenspitze.
Er war so verdutzt, dass er einen Schwächeanfall bekam. Als er sich
auf eine Fensterbank setzte und danach wieder hochsah, war sie verschwunden.
Er nahm erst einmal ein Weißbier an der Hotelbar und sah sich
laufend um, vergeblich. Dann ging er auf sein Zimmer und schloss sich ein.
Für den Augenblick wusste er nicht recht, was ihn mehr beschäftigte.
Polín oder sein Projekt.
Er drückte auf Teresas Kurzwahl, informierte sie in kurzen Worten
und meldete sich für zwei, drei weitere Tage bei seiner Haushaltshilfe ab.
»Si, señor«, rief ihm die Andalusierin
fröhlich zu. »Bleibe Sie sauber!«
ZEHN
Ein wenig ähnelte Rico Stahl dem Politiker zu Guttenberg
oder auch dem jungen John F. Kennedy. Einerseits war er eitel (wenn ein
Mann ein Wochenendseminar mit dem Titel www.Gel-für-das-Haar.de belegt, wird er
wohl als eitel gelten dürfen, oder?). Andererseits füllte er einen Raum, sobald
er durch die Tür trat. Charisma und Empathie lassen sich nicht durch zehn
Seminare erlernen. Dabei konnte er durchaus arrogant wirken. Und – was die
wenigsten bei seinem Auftreten vermutet hätten – er besaß auch eine soziale
Ader. Er war in einer Jesuitenschule erzogen worden. Die christliche Einstellung
mit ihrem Gebot zur Nächstenliebe war haften geblieben.
Rico Stahl war keiner, der jeden Tag sein Tischgebet sprach oder
jeden Sonntag die Kirche bevölkerte. Doch er war einer, der, wenn er das Gefühl
hatte, dass geholfen werden musste und er helfen konnte, half.
Nun haben Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, trotz meiner
Warnungen schon so weit durch dieses traurige, depressive Buch geschleppt.
Endlich haben Sie einen Haken, an dem sie sich festhalten können. Eigentlich –
ich betone es noch einmal – sollten Sie dieses Buch zuklappen und die sehr
unglückliche Geschichte, die noch folgen wird, einfach vergessen. Doch für den
Fall des Falles: Hier ist jemand, der Sie hie und da ein bisschen positiv
stimmen könnte, obwohl es als Chef einer Mordkommission nun wahrlich nicht
seine Aufgabe sein kann. Wenn Sie also wirklich meinem Rat nicht folgen wollen,
empfehle ich Ihnen, sich an Rico Stahl zu halten, den Herrn mit dem stählernen
Blick und dem Hang zum Gutmenschen.
Wie gesagt, Rico wollte helfen, wenn er das Gefühl hatte, es müsse
sein. Gegenüber seinem Vorgänger, dem Kriminalrat Joe Ottakring, war dieses
Gefühl so stark wie bei einem hungrigen Hund, der sich einem Wurstnest nähert.
An Ottakrings Gesicht musste man sich erst gewöhnen. Doch mehr
und mehr erschien es Rico angenehm und freundlich. Wie jeden Pensionisten hielt
er ihn für einen sorgenfreien Menschen, die Dinge schienen ihm zu glücken. Er
hatte eine attraktive Frau, die ihn liebte, er trieb Sport, hatte sein
tägliches Weißbier, er war kein Spießer. Doch in letzter Zeit hatte er sich
verändert. Nicht erst seit dem gut gemeinten telefonischen Hinweis neulich fiel
ihm das auf. Auch nicht erst seit dem Tag, als er als Kurzzeitgeisel in den
Dirndlüberfall geraten war und seither vom Polizeipsychologen behandelt wurde.
Nein, vorher schon war ihm etwas Trauriges, Finsteres und viel zu Verbrauchtes
ins Auge gefallen. Das sah man an Männern in Ottakrings Alter in Oberbayern
zwar öfter, doch an ihm schien es ihm besonders ausgeprägt.
Er wollte der Sache nachgehen.
Naheliegend wäre gewesen, sich an den Psychologen zu wenden. Doch
der hatte sich ausschließlich auf die posttraumatische Belastungsstörung
konzentriert. Dass der große Ottakring an so etwas litt, nur wegen dem bisserl
Sprenggürtel um den Bauch, daran glaubte Rico eh nicht. Ottakring hatte in
langen, langen Berufsjahren wahnsinnig viel erlebt und mitmachen müssen. Wenn
dem ein Gorilla ein Bein abbiss oder er nach Wochen aus einer hundert Meter
tiefen Gletscherspalte gerettet würde, säße der am nächsten Tag schon wieder im
Kino und schaute sich einen Gruselfilm an.
Also musste der Grund für sein Anderssein etwas anderes sein.
Der Weihnachtsfimmel, sein Spleen, von dem er gerade gehört hatte?
Wohl kaum. Niemand ist traurig oder gar depressiv, wenn in den Kaufhäusern nicht
mehr »O du fröhliche« geplärrt wird und ein neues Jahr beginnt.
Vorsichtshalber lud er Ottakring noch einmal als Zeuge vor und
machte sich ein Bild von ihm. Bedrückt, wortkarg, humorlos. Eine seltsam hohe
metallische Stimme ohne Modulation. Alles in allem ein Erscheinungsbild wie bei
einem Politiker nach seiner Abwahl. Ein ganz anderer
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