Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
zu überhäufen. Denn auf das Tagebuch von Burkard stützen sich mehr oder weniger stark alle Biographien der Familie und die Beschreibungen Roms zu seiner Zeit.
Aber ist das Tagebuch überhaupt echt? Ist es wirklich ein Werk Burkards, wenigstens zum Teil? So unglaublich es auch erscheinen mag, kein einziger der Historiker, die die Echtheit des Tagebuchs bis aufs äußerste verteidigen, hat je wahrnehmen wollen, dass der Text, der dem päpstlichen Zeremonienmeister zugeschrieben wird, munter bei den deftigen Erfindungen Boccaccias abschreibt. Die Erzählung vom Kaufmann, der von seinem Freund nackt in eine Truhe gesperrt wird, einschließlich des glücklichen Endes, das die beiden Freunde und ihre Frauen wieder versöhnt, ist wortwörtlich eine getreue Nachahmung der 24. Novelle aus dem Decamerone . Nur die Namen der Figuren sind geändert: Bei Boccaccio heißen sie Zeppa und Spinelloccio, bei Burkard werden sie zu Pietro und Giovanni. Henry Thuasne, der Herausgeber der ersten Ausgabe des Tagebuchs ( Burchardi Johannis Diarium , Paris 1883-1885), verbannt diese beunruhigende Tatsache in eine knappe Fußnote. Nach ihm herrscht Schweigen. Generationen von Akademikern, Professoren und Gelehrten haben das freche (und als Faktum unbequeme) Plagiat verschwiegen, was beweist, wie wenig man sich manchmal auf die sogenannten Experten verlassen kann.
Der Italiener Giovanni Soranzo ( Studi intorno a papa Alessandro VI , Mailand 1950, S. 62 ff.) erinnert an die gefälschten Briefe, die den Papst geheimer Absprachen mit dem türkischen Sultan Bayazet bezichtigen und in Burkards Tagebuch wiedergegeben werden. Wie Salai richtig bemerkt, wurden die Anweisungen des Papstes an den Gesandten, der den Kontakt zu Bayazet herstellen sollte, nach Aussagen der Verleumder (darunter auch Burkard) bei dem Notar Filippo de’ Patriarchi in Florenz deponiert. Ein störendes Detail: Einen Notar mit diesem Namen hat es in Florenz nie gegeben … (Soranzo, S. 63, Anm. 1).
Nicht weniger erschreckend ist die Tatsache, dass es von Burkards Tagebuch, aus dem die Historiker jahrhundertelang vertrauensvoll geschöpft haben, kein zweifelsfrei identifiziertes Original gibt, außer 25 Seiten, die die letzten drei Jahre, 1503-1506, umfassen. Tatsächlich liegen von Burkards Tagebuch verschiedene Abschriften vor (auch weil es erst dreihundert Jahre nach seiner Entstehung gedruckt wurde), aber nur in einer von ihnen wurde mit ausreichender Sicherheit die echte Handschrift des Autors erkannt, und es handelt sich wohl nicht zufällig nur um den Teil, der die Jahre nach dem Tod Alexanders VI. umfasst. Genauer: Dieses originale Tagebuch ist ab dem 12. August 1503 überliefert, also dem Tag, an dem Alexander VI. von einem mysteriösen Leiden befallen wurde, das ihn in nur sechs Tagen ins Grab brachte. Welch ein seltsames Zusammentreffen.
Kurzum, was das Pontifikat und die Jahre betrifft, in denen Rodrigo Borgia Kardinal war, müssen wir uns mit angeblichen Kopien des Tagebuchs begnügen, die zudem nicht persönlich von Burkard verfasst wurden. Sind es getreue Kopien? Wer hat sie geschrieben?
Wie schon vor vielen Jahren eingehend und mit detaillierten Belegen gezeigt wurde (vgl. F. Wasner, Eine unbekannte Handschrift des Diarium Burckardi , in: Historisches Jahrbuch, 83 [1963], S. 300-331), entstanden die Texte der wichtigsten Handschriften Burkards (nämlich das Original von 1503 bis 1506 und die ältesten Kopien) nicht kontinuierlich und in einheitlicher Form. Erst wurden jene Berichte geschrieben, die sich auf die Routine des päpstlichen Zeremoniale bezogen (Empfänge bedeutender Persönlichkeiten, liturgische Aktivitäten, Beförderung von Kardinälen, Feste, päpstliche Audienzen usw.); und danach wurden die «skandalösen» Nachrichten eingefügt, nämlich die Einzelheiten über die angeblichen Exzesse Papst Alexanders VI. und seiner Angehörigen. Wasner zeigt außerdem an (S. 331), dass aus dem lateinischen Vatikan-Kodex 5633 in der Vatikanischen Bibliothek in Rom, einer Sammlung unterschiedlicher Handschriften des päpstlichen Zeremoniars, mehrere Seiten entnommen wurden. Demnach handelt es sich nicht um ein richtiges Tagebuch, sondern um eine Art Kanevas, in den zu einem bestimmten Zeitpunkt und aus nicht offengelegten Gründen ganze Seiten herausgenommen und zahlreiche «pikante» Details kunstvoll eingeflochten wurden. Von einer langweiligen Beschreibung päpstlicher Zeremonien gelangt man zu einer erschütternden Reihe von Enthüllungen über die
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