Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
Hintergründe der Familie Borgia, über das sündige, korrupte Rom und das Papsttum, das einer kräftigen Säuberung bedarf.
Im Übrigen ist es höchst unwahrscheinlich, dass Burkard ein Tagebuch geführt hat, das ihn sofort den Kopf gekostet hätte, wenn es von Valentino oder anderen entdeckt worden wäre. So aber passt jeder Mosaikstein des Rätsels an seinen Platz: Die «skandalösen» Inhalte wurden dem Manuskript erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeimpft, vielleicht nach dem Tod Alexanders VI. als ohnehin unzählige gefälschte Dokumente hergestellt wurden, die sich auf sein Pontifikat bezogen (wie Ferrara, De Roo und andere behaupten), vielleicht auch schon vorher (wie Wasner meint, vgl. S. 330), aber auf jeden Fall a posteriori .
Wasner fragt sich natürlich, warum das alles geschah und vor allem für wen. Es gibt die Hypothese einer Rache (Wasner, S. 328): Burkard hatte den Ehrgeiz, Bischof zu werden, wie sein Vorgänger Agostino Patrizi, was Alexander VI. ihm jedoch verweigerte. Tatsächlich schwelte zwischen dem Papst und seinem Zeremonienmeister ein heimlicher Krieg: Wie Salai erzählt, bat Alexander VI. die deutsche Bruderschaft der Anima um Hilfe bei der Verteidigung der Stadt gegen das anmarschierende französische Heer, doch er erhielt eine klare Absage. Die überraschende Entscheidung, von der Spitze der Bruderschaft (zu der auch Angelo/Toefl gehörte, der Besitzer des Wirtshauses della Campana) gemeinsam gefällt, wurde dem Papst von Burkard persönlich mitgeteilt, der viele Jahre lang an der Spitze der Bruderschaft stand und höchstwahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der Weigerung gespielt hatte.
Unser Salai geht jedoch noch einen Schritt weiter und betrachtet die Sache aus einer umfassenderen Perspektive: Während Tacitus’ Germania die Herzen der Deutschen entflammte und sie mit Hilfe der elsässischen Sirenengesänge von Wimpfeling und seinen Genossen davon überzeugte, dass sie edler Abstammung waren und das Recht auf eine triumphale Wiedergutmachung hatten, musste gleichzeitig an der anderen Front deutlich werden, in welch unflätigen Morast Rom die ganze Christenheit hineinzog. Burkards Tagebuch enthielt die passenden Argumente, und sie sollten jahrhundertelang von der antikatholischen Propaganda benutzt und immer wieder «aufgewärmt» werden.
Manch einem könnte es willkürlich erscheinen, die elsässischen Humanisten mit Burkard und seinem Tagebuch und obendrein die Bankiersfamilie Fugger, die nicht aus Straßburg, sondern aus Augsburg stammte, in einer gemeinsamen Intrige zu verbinden, wie Salai es tut. Nun, es gibt Verbindungen: In der zweiten Hälfte es 16. Jahrhunderts erhielt ein italienischer Humanist, Onofrio Panvinio (1530-1568), den Auftrag, Burkards Tagebuch zu kopieren. Da die älteren Kopien so lückenhaft sind und das einzige überlieferte Original nur wenige Seiten umfasst (wie gesagt, 25 Seiten, die Jahre 1503 bis 1506), wurde das Exemplar von Panvinio dann zu dem kanonischen Text, auf den die Historiker sich stützen müssen, um das Werk des päpstlichen Zeremoniars zu beurteilen (Ilari, op. cit. S. 264). Gab es nachträgliche Einfügungen, Veränderungen, Zusätze? Wir werden es nie erfahren. Panvinio erklärt seltsamerweise nicht, was er kopiert hat, nicht einmal, ob es ein Original oder bereits eine Kopie war.
Wer beauftragte Onofrio Panvinio mit dieser Abschrift? Johann Jakob Fugger (1459-1525), ein Mitglied der Bankiersfamilie, die sich schon 1479 nach Rom begab, um ihre finanziellen Beziehungen mit dem Papsttum zu festigen. Diese Beziehungen wurden nach dem Tod Alexanders V. besonders intensiv und erreichten ihren Höhepunkt 1508, unter dem Pontifikat Julius’ II., als die Fugger die Münzen des Papststaates prägen durften. Wozu brauchten die Fugger Burkards Tagebuch? Man weiß es nicht.
Fast alle Historiker haben es nicht so genau genommen. Jahrhundertelang haben sie das Plagiat des päpstlichen Zeremonienmeisters nicht nur verschwiegen oder ignoriert, sie haben auch nie aufgehört, die Öffentlichkeit in dem Glauben zu wiegen, es gebe nicht den geringsten Zweifel an der Urheberschaft (also der Echtheit) des gesamten Berichts des Zeremonienmeisters. Abgesehen von der bereits erwähnten fragwürdigen Authentizität des Textes, gibt sogar Burkard selbst (oder wer an seiner Stelle schreibt) zu, Ereignisse mehrmals nur nach bloßem Hörensagen berichtet zu haben. Darüber hinaus hat er die zeitlichen Lücken mit Hilfe eines anderen, ebenso
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