Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
zweifelhaften Tagebuchs gestopft, das nur wenig älter ist und von Stefano Infessura stammt (siehe weiter unten das entsprechende Kapitel), oder im Nachhinein lang vergangene Ereignisse in das Tagebuch eingefügt, sie jedoch an falscher Stelle platziert und so eklatante Anachronismen geschaffen (vgl. De Roo, Bd. 5, S. 309f.).
Mehr noch. Die Übeltaten Burkards, von denen Salai erfährt, sind alle wahr: Seine Vergangenheit als Fälscher und Händler mit gefälschten Dokumenten, Dieb und skrupelloser Emporkömling, der sogar in seiner Heimatstadt Straßburg verachtet wurde, ist bei mehr als einem Historiker ausführlich dokumentiert (vgl. J. Lesellier, Les méfaits du cérémoniaire Jean Burckard , in: Mélanges d’archéologie et d’histoire, 44 [1927], S. 11-34; L. Oliger, Der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard von Straßburg , in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte, 9 [1934], S. 199-232). Überdies darf man nicht vergessen, dass der Zeremonienmeister schwerwiegende geistige Diebstähle bei seinen Vorgängern beging, indem er ihre Schriften über das Zeremoniale plünderte, um dann sich selbst die Urheberschaft und das Verdienst zuzuschreiben (Lesellier, S. 24-30). Später verschwanden diese Schriften auf geheimnisvolle Weise: Burkard brach mit der Tradition, indem er sie nicht an seinen Nachfolger Paride Grassi weiterreichte. Auch von seiner schleichenden Kleptomanie hat der Straßburger Zeremonienmeister sich nie befreit. Wie Grassi berichtet (Lesellier, S. 18f.), konnte Burkard am 18. April 1506, noch wenige Monate vor seinem Tod, der kindlichen Versuchung nicht widerstehen, sich heimlich eine Münze anzueignen, die der neue Papst Julius II. während des feierlichen Ritus der Eröffnung des neuen Chors von San Pietro in eine Schale gelegt hatte. Später versuchte er, die Tat zu vertuschen, indem er in seinem Tagebuch behauptete, er habe die Münze als Geschenk erhalten ( Diarium , hg. v. Thuasne, Bd. III, S. 423). Der Zeremonienmeister, der während einer Zeremonie stiehlt und im Tagebuch des Zeremoniale lügt. Es wundert nicht, dass Burkard von einigen wenigen Forschern, die gegen den Strom schwimmen, eine «Persönlichkeitsspaltung» (Soranzo, S. 51) und ein «pathologisch krimineller Zug» (Wasner, S. 329) diagnostiziert wurde.
Und dennoch sind seit fünf Jahrhunderten weltweit fast alle Historiker entschlossen, diesem Mann und seinen (angeblichen) Schriften zu glauben.
Das Tagebuch von Infessura und andere Fälschungen
Ein anderer, in der Forschungsliteratur ausgiebig zitierter Text ist das Tagebuch von Stefano Infessura, Skribent beim Senat von Rom in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Aus seiner Feder stammen zahllose Verleumdungen des Borgia-Papstes, die in Biographien, Lehrbücher und Enzyklopädien aufgenommen wurden, um dann in Fernsehserien, Novellen und Romanen und sogar in Hollywoodfilmen weiterzuleben.
Auch in diesem Fall gibt es keinen Originaltext, auf den man sich beziehen könnte (aber dieser Umstand wird von den Historikern im Allgemeinen verschwiegen, wenn sie sich nicht an ein Fachpublikum wenden). Von Infessuras Tagebuch sind zahlreiche Kopien im Umlauf, und sie unterscheiden sich so stark, die Editionslage ist so chaotisch, dass sogar die Ausgaben aus neuerer Zeit den Text halb auf Latein, halb auf Italienisch abdrucken. Ausführlich wurde nachgewiesen, dass der Text unendlich viele Interpolationen, Zusätze und Streichungen enthält, darum wäre es unmöglich, all die Hände zu zählen, die teilweise sehr weitgehende Veränderungen vornahmen, und noch schwieriger wäre es, die Urheber dieser «Korrekturen» ausfindig zu machen. Die mangelnde Glaubwürdigkeit des römischen Schreibers und des Textes, der seinen Namen trägt, ist von mehreren Seiten festgestellt worden (Pastor, der Autor der berühmten Storia dei Papi ; außerdem Schröck, Brück, die Zeitschrift Civiltà Cattolica und andere, vgl. De Roo, Bd. V, S. 320f.). Trotzdem benutzen (manchmal auch ohne dies anzugeben) Historiker und populärwissenschaftliche Autoren das Tagebuch Infessuras weiterhin seelenruhig als Quelle schlüpfriger Anekdoten über die Papstherrschaft Rodrigo Borgias.
Der Fall De Roo
In Wahrheit mangelt es nicht an Versuchen, die Geschichte der Familie Borgia seriös und objektiv zu untersuchen, doch sie sind von der offiziellen Kritik alle gewaltsam unterdrückt worden. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts veröffentlichte der belgische Priester Peter De Roo ein
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