Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
theoretischer Durchdringung und experimenteller Praxis erreicht hatte, dass Galileo und Newton im Vergleich dazu wie zwar geniale, aber leicht verwirrte Lehrlinge und blutige Anfänger erscheinen müssen.»
Die Geburt der modernen Wissenschaft war also «weder unabhängig von ihren Vorgängern noch zufällig. Im Gegenteil, zu Beginn taten die sogenannten Modernen nichts anderes, als sich langsam Kenntnisse zurückzuerobern, die in dem Maße nach und nach wieder ans Licht kamen, in dem die Funde griechischer, arabischer und byzantinischer Manuskripte durch den wachsenden Handelsverkehr und kulturellen Austausch auch nach Italien gelangten» (Russo, S. 13f.).
«Leonardo verdankt Philon von Byzanz, der damals gerade zum ersten Mal in eine moderne Sprache übersetzt worden war, sehr viele Anregungen aus dem Bereich der Technologie, und er verdankt der hellenistischen Zeit viel, was Ansaug- und Druckpumpen, Endlosschrauben, Zahnstangen und Wasserleitungen betrifft. Und vielleicht sollte man auch Heron von Alexandrien berücksichtigen, dessen Maschinen eine sehr wichtige Inspirationsquelle (und vielleicht noch mehr) waren: Wasserwaagen, Dampfmaschinen ante litteram , Pressen, Untersetzunggetriebe und vieles andere waren tatsächlich schon Jahrhunderte zuvor erdacht worden», bestätigt der Geologe Mario Tozzi ( Leonardo, L’acqua e il Rinascimento , Mailand 2004, S. 17).
Kurzum, Leonardo, der sich das griechische und hellenistische Erbe gründlich angeeignet hatte, entwarf Maschinen, deren Zweck er selbst nicht immer begriff, und genau das ist der Grund, warum sie nicht funktionieren konnten, nicht weil sie ihrer Zeit so weit voraus waren. Um sie zu bauen, wäre ein technologisches Wissen vonnöten gewesen, das mittlerweile verloren war.
«Die Intellektuellen der Renaissance», schreibt Lucio Russo, «waren nicht in der Lage, die wissenschaftlichen Theorien der hellenistischen Zeit zu verstehen, doch wie intelligente und neugierige Kinder, die zum ersten Mal eine Bibliothek betreten, waren sie von den einzelnen Ergebnissen fasziniert und besonders von jenen, die in den Handschriften mit Illustrationen erklärt werden, zum Beispiel, in zufälliger Ordnung, von den anatomischen Sezierungen, der Perspektive, den Räderwerken, den mit Luftdruck betriebenen Maschinen, dem Guss großer Bronzewerke, den Kriegsgeräten, der Hydraulik, den Automaten, der ‹psychologischen› Porträtkunst und dem Bau von Musikinstrumenten» (Russo, S. 112).
Poggio Bracciolini
Wer sich davon überzeugen möchte, dass die Informationen über Poggio Bracciolini keine Ausgeburt der Phantasie sind, kann sie überprüfen bei E. Walser, Poggius florentinus. Leben und Werke , Hildesheim/New York 1974. Was die (angeblichen) Handschriftenfunde durch Poggio und die anderen Humanisten betrifft, so vergleiche man das, was Salai berichtet, mit R. Sabbadini, Le scoperte dei codici latini e greci nei secoli XIV e XV , Florenz 1967.
Poggio Bracciolini wandte einen wirklich schlauen Trick an, um seine geheimnisvollen Erfolge als Jäger verschollener Manuskripte zu erklären: Er präsentierte der Welt die Kopie einer angeblich von ihm entdeckten Handschrift, die später jedoch seltsamerweise nicht mehr auffindbar war. So ist Poggio zum Beispiel bei der Institutio oratoria von Quintilian verfahren. Er behauptete, er habe sie von zwei antiken Kodizes abgeschrieben, die dann jedoch auf geheimnisvolle Weise verschwanden.
Diese Methode (erst einen aufsehenerregenden Fund bekanntgeben und nach der Herstellung von Kopien den bedauerlichen Verlust des Originals anzeigen) ist nicht nur der bekannteste literarische Kunstgriff seit Dumas. Sie ist auch schon immer der klassische Trick aller Fälscher gewesen. 1958 erklärte Morton Smith, angesehener Historiker und eremitierter Professor an der Columbia University, er habe in einem orthodoxen griechischen Kloster bei Jerusalem drei Seiten einer geheimnisvollen Handschrift gefunden, die angeblich den Beweis für die Existenz eines «anderen» Markusevangeliums lieferten. In dem Text entpuppte sich Jesus als eingefleischter Homosexueller an der Spitze einer sehr merkwürdigen esoterischen Sekte, deren Anhänger (darunter auch Lazarus) mit erotischen Praktiken initiiert wurden. Ohne die komische Seite des angeblichen Fundes wahrzunehmen, haben Bibelforscher rund um die Welt Morton Smith geglaubt (abgesehen von ein paar Mutigen, die vergeblich versuchten, den Schwindel auffliegen zu lassen), und das obwohl das
Weitere Kostenlose Bücher