Salambo
Verehrung. Ich bin die Stufen Eschmuns hinaufgestiegen, des Gottes der Planeten und der denkenden Wesen. Ich habe unter dem goldenen Ãlbaum Melkarths geschlafen, des Schirmherrn der tyrischen Kolonien. Ich bin durch die Pforte des Baal Khamon geschritten, des Lichtspenders und Befruchters. Ich habe den Erdgeistern geopfert, den Göttern der Wälder, der Winde, der Ströme und der Berge. Aber alle sind sie zu fern, zu weit, zu fremd. Verstehst du mich? Tanit dagegen ist mit mir verwoben, sie erfüllt meine Seele, ich erbebe unter inneren Bewegungen. Mir ist es, als wolle sie sich aus mir herauswinden, um sich von mir loszumachen. Ich vermeine ihre Stimme zu hören, ihr Angesicht zu schauen. Blitze blenden mich ... und dann sinke ich zurück in die Finsternis.â
Schahabarim schwieg. Salambo sah ihn mit flehentlich bittenden Blicken an. Endlich gab er ihr einen Wink, die Sklavin wegzuschicken, die nicht von kanaanitischer Rasse 3 war.
Taanach verschwand. Schahabarim streckte seine Arme gen Himmel und sagte: âEhe es noch Götter gab, herrschte Finsternis, und es wehte ein Hauch, schwül und trüb wie das Bewusstsein der Menschen im Traum. Der Hauch verdichtete sich und erzeugte Gewölk und die Sehnsucht. Und aus der Sehnsucht und den Wolken entsprang der Urstoff. Das war ein tiefer, schwarzer, eisiger Sumpf. In ihm keimten fühllose Ungeheuer, zusammenhangslose Elemente der werdenden Wesen, wie sie auf den Wänden der Tempel abgebildet sind.â
âDann verdichtete sich der Urstoff. Er wurde zum Ei. Das zerbarst. Die eine Hälfte wurde zur Erde, die andere zum Himmelsgewölbe. Sonne, Mond, Winde und Wolken erschienen, und unter Donner und Blitz die denkenden Wesen. Eschmun kam in der Sternenwelt auf, Khamon erstrahlte in der Sonne, Melkarth trieb ihn mit starkem Arm bis hinter Gades zurück. Die Erdgeister stiegen hinunter in die Vulkane, und Rabbetna neigte sich gleich einer Amme über die Welt, und spendete ihr Licht wie einen Milchstrom, und deckte sie mit der Nacht zu wie mit einem Mantel ...â
âUnd dann?â fragte Salambo.
Er hatte ihr das Geheimnis der Schöpfung erzählt, um sie durch weite Ausblicke abzulenken. Aber an seinen letzten Worten entzündete sich das Begehren der Jungfrau von neuem, und Schahabarim fuhr in halbem Nachgeben fort: âSie weckt und lenkt die Liebe im Menschen ...â
âDie Liebe im Menschen ...â wiederholte Salambo versonnen.
Der Hohepriester fuhr fort: âSie ist Karthagos Seele. Obgleich sie überall webt und lebt, ist ihre Heimat hier bei uns unter dem heiligen Mantel.â
âO Vater!â rief Salambo. âIch werde sie sehen, nicht wahr? Du wirst mich zu ihr führen! Lange hab ich gezaudert. Das Begehren, sie zu sehen, verzehrt mich. Erbarmen! Hilf mir! Wir wollen hin zu ihr!â
Mit heftiger und hochmütiger Gebärde stieà er sie zurück. âNiemals! WeiÃt du nicht, dass man dann sterben muss? Die doppelgeschlechtlichen Götter entschleiern sich nur uns allein, die wir Männer durch den Geist und Weiber durch die Schwäche sind. Dein Begehren ist Gotteslästerung. Begnüge dich mit dem, was du kennst!â
Salambo sank in die Knie, legte zum Zeichen der Reue die beiden Zeigefinger an die Ohren und schluchzte, niedergeschmettert durch die Worte des Priesters. Zorn, Schrecken und Demut erfüllten sie gleichzeitig.
Schahabarim stand vor ihr, hoch aufgerichtet, gefühlloser als die Fliesen der Terrasse. Er blickte auf Salambos Gestalt herab, die zitternd zu seinen FüÃen lag, und empfand eine seltsame Freude, weil er sie für seine Gottheit, die selbst er nicht ganz zu erfassen imstande war, so leiden sah.
Schon begannen die Vögel zu singen, kalter Wind wehte, und kleine Wölkchen jagten über den erblassenden Himmel.
Da bemerkte der Priester am Horizont etwas wie einen leichten Nebelstreifen, der über das Land hin zu ziehen schien. Eine Weile später verwandelte sich dieser Nebel in eine senkrechte Wand von grauem Staub. Aus den Wirbeln dieser mächtigen Masse tauchten Kamelköpfe, Lanzen und Schilde auf.
Es war das Heer der Barbaren, das gegen Karthago vorrückte.
***
1 Berg mit Doppelgipfel, ca. 15 km südlich von Karthago, heute: Hammam el Enf
2 auch âSäulen des Heraklesâ, die Einfahrt ins Mittelmeer zwischen Gibraltar und Deschebel Musa (oder Abyle)
3 Die Phönizier besiedelten die afrikanische
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